Dokumentarfilmgruppe und Gäste in Wolfenbüttel, Juli 1999. Jeweils von links nach rechts: Jacek Blawut, Beate Middeke, Dorota M. Paciarelli, Sven Schreivogel, Agnieszka Grzybkowska, Christine Mast, Mechthild Würth-Gassner, Dagmar Mazelis-Figl, Volker Schröder, Bart van Esch. Ganz hinten: Ekkehard Kähne und Günter Wallbrecht. Foto: Dorota M. Paciarelli

Die Geschichte das sind wir
Rückblick auf die Tage in Wolfenbüttel / Development Workshops 1999

Raymond Chandler, der eher grimmige Mensch, wird mit der Feststellung zitiert: ›Wenn es keine Kunst des Drehbuchschreibens gibt, so ist das teilweise darauf zurückführen, dass es keine verfügbare Zusammenfassung theoretischer und praktischer Vorgaben gibt, um sie zu erlernen.‹ Mag sein, dass es so damals in Hollywood und Europa war. Heute ist eher das Gegenteil der Fall. Neben Büchern über diverse Aspekte des Drehbuchschreibens gibt es unzählige Workshops, Sessions, Centers, Kurse, Programme und Crash-Kurse (früher sagte man dazu: Schnupperkurse), die - wenn auch unterschiedlich vom Ansatz her und von der Qualität und Seriosität des Fortbildungsanspruchs stark voneinander abweichend - ihre Teilnehmer finden. Und trotzdem bleibt die Frage berechtigt: Worin besteht eigentlich die Kunst des Drehbuchschreibens? Und, wenn es eine gibt: kann man sie den anderen beibringen? Wenn ja: mit welchen Mitteln? Gesetzt den Fall, ein jeder Kursteilnehmer sei ein talentierter Erzähler, welche Lernmethoden seien die wirksamsten? Sollen sich die Mentoren nur auf das Handwerkliche, sprich: die Kenntnisse der dramaturgischen Strukturen, Genres, die Fähigkeit, den Figuren ein gewisses Leben zu verleihen, konzentrieren und das Persönliche weitestgehend ausklammern? Woran lässt sich das Besondere einer Geschichte ausmachen, was meint der oft heraufbeschworene ›spezielle Blick‹ des Autors auf das Thema, wie eine Originalität in der Welt der permanenten Nachahmung und Fälschung erreichen?
Als ich Hilde Berger im Mai 1999 in Wien besucht habe, fielen mir zuerst ihr ›Wiener Humor‹, eine angenehme Leichtigkeit in der Wahrnehmung aller angeblich so wichtigen Dinge des Lebens wie Geld, Karriere, Macht auf. Als wir dann an die Auswahl der Stoffe der Spielfilmgruppe gingen, war jene Leichtigkeit weg. Sie wich einem Ernst, mutierte in geduldige ›Noch-Mal-Von-Vorne-Lesen‹-Haltung und gescherzt wurde auch nicht mehr. Hildes Lieblingsfrage beim Wein im Heurigen war: ›Was glaubst Du, worum geht es in der Geschichte wirklich?‹
Andreas Voigt, Mentor der Dokumentarfilmgruppe, fragte vor der Auswahl, ob er sich denn nicht einige Filme der Bewerber angucken kann. Das sei ihm wichtig, ließ er mich am Telefon wissen, schließlich fühle man dann besser, wie einer erzählt. Jacek Blawut, der gemeinsam mit Andreas Voigt die Dokumentarfilmgruppe betreute, interessierte sich bei der Auswahl besonders für die angedachte Form des Projektes, dafür, ob der Bewerber sich Gedanken gemacht hat, wie er seine Idee ausdrücken kann. ›Gibt es da starke Bilder?‹ fragte er mich, als ich ihn in Lòdz anrief. Und immer wieder: das wirkliche Thema, der Subtext, das Besondere.
Als sich im Juli 1999 die Teilnehmer der Development Workshops 1999 zum ersten Mal begegneten, stellten sie sich bestimmt nicht die Frage, ob es die Kunst des Drehbuchschreibens gebe. Ihr Anliegen war praktischer, sie wollten eine ›gut erzählte Geschichte‹ in Gang bringen und erfahren, wo die anderen die Schwächen, aber auch Stärken der jeweiligen Geschichte sehen. Und sie wollten Produzenten und Redakteure finden, die bereit wären, ihre Geschichte zu kaufen. Als sie im Dezember 1999, fünf Monate nach dem ersten Seminar, statt zu pitchen mit den eingeladenen FernsehredakteurInnen und Filmproduzenten bis in den späten Abend über ihre Stoffe, aber auch über die Haltung zum Beruf, sprachen, fragten wir uns, ob es doch noch eine Kunst des Drehbuchschreibens gebe. Eine vielleicht von vielen, die jeder im Laufe der Zeit für sich herausfindet, für die sich jeder selbst entscheiden muss. Die Kunst, jene Zeit, in der wir miteinander arbeiten, zugunsten unserer Ideen arbeiten zu lassen.
Die Kunst, in die Projekte und in die eigene Welt der Bilder, Vorstellungen, Erfahrungen und Ansichten einzutauchen und anzuhalten, sich umzuschauen, was dort alles wächst, wuchert, auf Entdeckung wartet. Die wichtigste Erkenntnis der Development Workshops 1999 für mich war, dass jedes Projekt und jeder Autor seine Zeit brauchen und dass es sehr hilfreich ist, wenn die Einsamkeit des Schreibens durchbrochen wird mit Begegnungen und Diskussionen, die uns spüren lassen, dass andere sich für uns den Kopf zerbrechen, dass wir jetzt wahrscheinlich die beste Lösung für ein Problem gefunden haben, an dem wir an unseren Schreibtischen so lange nachgrübelten.
Ich halte vor mir den Ausschreibungs-Flyer, in dem ich u. a. schrieb: ›Das Ziel der Development-Workshops ist es, die erste bzw. zweite Drehbuchfassung herzustellen‹.
Ich habe mich geirrt. Das Ziel lag nicht in der Herstellung der ersten, oder zweiten Drehbuchfassung. Das Ziel war: einen Wandel in den Köpfen der Autoren herbeizuführen, ihnen zu zeigen, dass sie den Zugang zu ihren Ideen finden werden, wenn sie sich die richtigen Fragen gestellt haben. Das Ziel war, zu erkennen, dass Enttäuschungen aufgrund von Absagen nicht zwingend auf die Qualität der Projekte zurückgehen müssen. Ein weiteres Ziel war, Fragen aufzuwerfen, die wir uns nicht immer zu stellen trauen und Wege aufzuzeigen, die sich einem jeden Projekt auftun, vorausgesetzt, man bleibt spielerisch und diszipliniert zugleich, zäh und doch flexibel und lässt sich auf Wellen ein, die einen mal angenehm tragen, mal wegstoßen. Die meisten der Autoren sind jetzt dort angekommen, wo die Mentoren und ich sie gern sehen wollten. Sie haben ihr Thema entdeckt. Sie haben mal Anerkennung, mal Kritik erlebt und können damit gut umgehen. Sie haben ein Projekt, das sie den Produzenten und Redakteuren mit einem guten Gefühl vorlegen können, weil das, was erarbeitet  wurde mit der heutigen Zeit und mit der eigenen Sicht des Autors eng verknüpft ist. Zu verdanken ist diese gute ›Ernte‹ der Development Workshops 1999 allen, die daran teilgenommen und die einzelnen Entwicklungsstufen begleitet haben. Ein großer Dank geht an die eingeladenen Redakteure und Produzenten, die insgesamt 15 in der Drehbuch-Werkstatt Niedersachsen entwickelten Projekten, wenn nicht in allen Fällen zur Realisierung, so doch noch zum Gedeihen verholfen haben. (Fortsetzung folgt)

Dorota M. Paciarelli (Leiterin der Drehbuch-Werkstatt Niedersachsen)