Sinnes-Erinnerungen
Erinnerungen und Gedanken
anlässlich des Development Workshops 1999
von Hilde Berger,
Wien
Am letzten Arbeitstag des
Development Workshops sahen die Teilnehmer der ›Spielfilm-Gruppe‹ mit Amüsement
eine Szene aus Billy Wilders SUNSET BOULEVARD, in der sich der glücklose
Drehbuchautor Joe Gillis von der jungen Dramaturgin Betty Shaefer Tipps
geben lässt.
BETTY SHAEFER: Ich habe
einige von Ihren Exposés herausgesucht. - JOE GILLIS: Hat Ihnen
wenigstens eines gefallen? - BETTY SHAEFER: Ganz und gar nicht. Ausgenommen
dem einen: Sie haben da eine Rückblende - im Gerichtssaal, wo die
Lehrerin auftritt. - JOE GILLIS (erstaunt): Ein persönliches Erlebnis.
- BETTY SHAEFER: Deshalb ist es wahrscheinlich gut. Es ist echt. Ergreifend.
Ob Joe Gillis auf Grund
diese feedback endlich ein erfolgreiches Drehbuch verfassen konnte, erfuhren
wir nicht, denn er endete bald darauf als Leiche im Swimming-Pool des Stummfilmstars
Norma Desmond.
Das Amüsement der Zuseher
rührte wohl daher, dass sie im Laufe der vier vergangenen Blockseminare
von Dieter Berner und mir immer wieder dazu animiert wurden, ihre persönlichen
Erlebnisse in ihre Drehbücher einfließen zu lassen, um die Charakterisierung
und Motivierung der Hauptfiguren zu vertiefen, - und zwar jene Erlebnisse,
an die man nicht so gerne rührt, weil sie weh tun oder weil man sie,
aus welchen Gründen auch immer, verdrängt hat. Neben der herkömmlichen
dramaturgischen Betreuung, der Diskussion über die Stoffe und den
Aufbau, gab es glücklicherweise Zeit für Beschäftigung mit
Improvisationstechniken, die von dem persönlichen Erfahrungsbereich
der Teilnehmer ausgingen. Dabei stellte sich ein positiver Nebeneffekt
ein: durch die gemeinsamen Erfahrungen im Überwinden von Hemmungen
und emotionalen Barrieren wuchs die Gruppe zusammen und lernte auf respektvolle
Art mit dem kreativen Prozess des anderen umzugehen und einander hilfreiche
Kritiker zu sein.
Wenn man das Drehbuch in
Analogie zur Musik als eine Partitur versteht, dann gehört es zum
Handwerkszeug des Drehbuchautors, über den Wirkungsbereich und die
Anwendungstechnik seiner ›Instrumente‹ Bescheid zu wissen, das sind neben
Kamera, Schneideplatz und Musik natürlich auch die Möglichkeiten,
die der Schauspieler zur Verfügung hat. Interessanterweise geht ja
der Schauspieler mit den gleichen Fragen an seine Rolle heran, über
die auch der Drehbuchautor nächtelang grübelt: was will meine
Figur eigentlich? Wo liegt ihr Konfliktpotenzial? Woher rühren ihre
Ängste, was sind ihre geheimen Sehnsüchte? Während der vier
Blockseminare des Development Workshops hatten die Drehbuchautoren Gelegenheit,
sich von ihren Arbeitsplätzen am Schreibtisch zu erheben und den Trainingsraum
des Schauspielers zu betreten, um sich nach schweißtreibenden körperlichen
Lockerungen mit darstellerischen Übungen zu beschäftigen, die
dem sinnlich-kreativen und intuitiven Bereich Nahrung geben. Es kamen einerseits
Techniken zur Anwendung, die aus Morenos Psycho-Drama herrühren, weiter
auch Improvisationen, die ihren Ursprung im Selbsterfahrungstheater der
Siebziger Jahre haben, andererseits bestimmte Techniken, die von Stanislawski
herkommen, die aber erst in den letzten Jahrzehnten über das New Yorker
›Actors Studio‹ als method acting ihren Weg nach Europa zurückgefunden
haben.
Es ging dabei darum, das
emotionale Gedächtnis, das heißt das Erinnerungsvermögen
an Sinneserfahrungen, an das, was man hört, sieht, ertastet, schmeckt,
also an den Sinnesorganen wahrnimmt, zu schulen. Da die Zeichensprache
des Films sich auf Bild und Ton beschränkt, bedeutet dies für
den Drehbuchautor, dass er seine Geschichte und die Gefühlswelt seiner
Figuren nur mit dem, was der Zuseher sehen und hören wird, vermitteln
kann. Der Drehbuchautor muss sich auf die Suche nach der Abbildbarkeit
der Gefühle machen: nach der Brille am Nachtkästchen der toten
Mutter; nach dem Ehering, der im Sand versunken ist; nach Blut- und Spermaflecken
am Rücksitz des Opel Rekord; nach dem Schrei des Kaninchens, das getötet
wird; nach einem ganz bestimmten Satz im Kauderwelsch aus Afrikaans und
Englisch; nach Bildern und Worten, die bei der Erforschung des persönlichen
emotionalen Gedächtnisses zutage treten.
›Wer will das schon sehen?
Wer will ergriffen sein?‹ lässt Billy Wilder seinen frustrierten Drehbuchautor
Joe Gillis am Schluss der vorhin zitierten Szene Betty Shaefer fragen.
›Natürlich wollen die
Zuseher ergriffen sein, große Figuren und große Gefühle
werden erwartet!‹ So lautete das Credo der Producer und Fernseh-Redakteure,
die den Workshop während des vierten Blockseminars besuchten. Ich
bin zwar nicht der Meinung, dass Drehbuchautoren immer den Wünschen
der Producer und Redakteure folgen sollen, weil diese die Filme von morgen
meistens nach den Rezepten von gestern machen wollen, aber der Ruf nach
Gefühls-Kino und nach originären Figuren war nicht zu überhören.
Was aber sonst ermöglicht Originalität, als der persönliche
Zugang des Drehbuchautors und seine ganz persönliche Erfahrung?
Teilnehmer der Development Workshops 1999:
Spielfilmgruppe: Martin
Bolik: ›Open Sky‹; Barbara Etz: ›Die Kandidatin‹; Annette Fuchs: ›Der Verrat‹;
Marc Meyer: ›Felix, der Feuerwehrmann‹; Rosi Schneider-Mohamed: ›Sunzest‹;
Anna Pein: ›Hilde‹ und Massoud Shabanpour: ›Briefe an Leila. Tagebuch eines
Ausländers‹.
Dokumentarfilmgruppe:
Bart van Esch und Martin Hansen: ›Napoleon aus Hannover‹; Mechthild Katzorke
und Volker Schöwerling: ›Die Schatzinseloper‹; Christine Mast: ›Und
alles weckte in mir das Verlangen, davonzulaufen und ewig zu bleiben...‹;
Dagmar Mazelis-Figl: ›Kunstraum Hannover‹; Beate Middeke: ›Jesus Freaks‹;
Volker Schröder: ›Das Kraftei‹; Günter Wallbrecht: ›Alles zu
einem guten Ende bringen‹ und Mechthild Würth-Gassner: ›Die Leichenwäscherin‹.
Mentoren: Spielfilmgruppe:
Hilde Berger (Österreich) und Dieter Berner (Österreich): Training
und Schauspielübung. Dokumentarfilmgruppe: Jacek Blawut (Polen) und
Andreas Voigt (Deutschland).
Gäste / Script Market
(Oktober und Dezember 1999): Anne Baumann, ARTE; Ulrike Becker, SWR;
Jochen Coldewey, Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft
und Kultur; Katja Frechen, PROVOBIS Berlin; Julia Gerdes, SWR; Andrea Hanke,
WDR; Thomas Kufus, ZERO FILM; Frank Löprich, Ö-FILM Berlin; Ilonka
Meier, MULTIMEDIA HAMBURG; Dr. Michael Meyer, Saarländischer Rundfunk;
Klaus Schmutzer, ›A JOUR‹ Filmproduktion Berlin.
Förderer: Filmförderung
aus Mitteln des NDR in Niedersachsen; Kulturelle Filmförderung des
Landes Niedersachsen.
Träger: Film
& Medienbüro Niedersachsen / DREHBUCH-WERKSTATT NIEDERSACHSEN.
Kooperationspartner: Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel
(Literaturabteilung: Dr. Olaf Kutzmutz und Verwaltung: Dirk Naumann).
Dank: Unser spezieller
Dank für die Einladung nach Hamburg am 20.Januar 2000 und das konstruktive
Gespräch mit Autoren der Spielfilmgruppe geht an Frau Doris Heinze
und die gesamte Spielfilmredaktion des NDR. Wir danken Karsten Münkemeyer
vom Palast Kino Gloria in Wolfenbüttel für die problemlose Organisation
der Filmvorführungen während der Development Workshops.