Development Workshops 1999, Spielfilmgruppe. 1. Reihe v. l. Martin Bolik, Massoud Shabanpour, Hilde Berger. 2. Reihe v. l. Annette Fuchs, Rosi Schneider-Mohamed. 3. Reihe v. l. Marc Meyer, Barbara Etz, Anna Pein.

Sinnes-Erinnerungen
Erinnerungen und Gedanken anlässlich des  Development Workshops 1999
von Hilde  Berger, Wien

Am letzten Arbeitstag des Development Workshops sahen die Teilnehmer der ›Spielfilm-Gruppe‹ mit Amüsement eine Szene aus Billy Wilders SUNSET BOULEVARD, in der sich der glücklose Drehbuchautor Joe Gillis von der jungen Dramaturgin Betty Shaefer Tipps geben lässt.
BETTY SHAEFER: Ich habe einige von Ihren Exposés herausgesucht. - JOE GILLIS: Hat Ihnen wenigstens eines gefallen? - BETTY SHAEFER: Ganz und gar nicht. Ausgenommen dem einen: Sie haben da eine Rückblende - im Gerichtssaal, wo die Lehrerin auftritt. - JOE GILLIS (erstaunt): Ein persönliches Erlebnis. - BETTY SHAEFER: Deshalb ist es wahrscheinlich gut. Es ist echt. Ergreifend.
Ob Joe Gillis auf Grund diese feedback endlich ein erfolgreiches Drehbuch verfassen konnte, erfuhren wir nicht, denn er endete bald darauf als Leiche im Swimming-Pool des Stummfilmstars Norma Desmond.
Das Amüsement der Zuseher rührte wohl daher, dass sie im Laufe der vier vergangenen Blockseminare von Dieter Berner und mir immer wieder dazu animiert wurden, ihre persönlichen Erlebnisse in ihre Drehbücher einfließen zu lassen, um die Charakterisierung und Motivierung der Hauptfiguren zu vertiefen, - und zwar jene Erlebnisse, an die man nicht so gerne rührt, weil sie weh tun oder weil man sie, aus welchen Gründen auch immer, verdrängt hat. Neben der herkömmlichen dramaturgischen Betreuung, der Diskussion über die Stoffe und den Aufbau, gab es glücklicherweise Zeit für Beschäftigung mit Improvisationstechniken, die von dem persönlichen Erfahrungsbereich der Teilnehmer ausgingen. Dabei stellte sich ein positiver Nebeneffekt ein: durch die gemeinsamen Erfahrungen im Überwinden von Hemmungen und emotionalen Barrieren wuchs die Gruppe zusammen und lernte auf respektvolle Art mit dem kreativen Prozess des anderen umzugehen und einander hilfreiche Kritiker zu sein.
Wenn man das Drehbuch in Analogie zur Musik als eine Partitur versteht, dann gehört es zum Handwerkszeug des Drehbuchautors, über den Wirkungsbereich und die Anwendungstechnik seiner ›Instrumente‹ Bescheid zu wissen, das sind neben Kamera, Schneideplatz und Musik natürlich auch die Möglichkeiten, die der Schauspieler zur Verfügung hat. Interessanterweise geht ja der Schauspieler mit den gleichen Fragen an seine Rolle heran, über die auch der Drehbuchautor nächtelang grübelt: was will meine Figur eigentlich? Wo liegt ihr Konfliktpotenzial? Woher rühren ihre Ängste, was sind ihre geheimen Sehnsüchte? Während der vier Blockseminare des Development Workshops hatten die Drehbuchautoren Gelegenheit, sich von ihren Arbeitsplätzen am Schreibtisch zu erheben und den Trainingsraum des Schauspielers zu betreten, um sich nach schweißtreibenden körperlichen Lockerungen mit darstellerischen Übungen zu beschäftigen, die dem sinnlich-kreativen und intuitiven Bereich Nahrung geben. Es kamen einerseits Techniken zur Anwendung, die aus Morenos Psycho-Drama herrühren, weiter auch Improvisationen, die ihren Ursprung im Selbsterfahrungstheater der Siebziger Jahre haben, andererseits bestimmte Techniken, die von Stanislawski herkommen, die aber erst in den letzten Jahrzehnten über das New Yorker ›Actors Studio‹ als method acting ihren Weg nach Europa zurückgefunden haben.
Es ging dabei darum, das emotionale Gedächtnis, das heißt das Erinnerungsvermögen an Sinneserfahrungen, an das, was man hört, sieht, ertastet, schmeckt, also an den Sinnesorganen wahrnimmt, zu schulen. Da die Zeichensprache des Films sich auf Bild und Ton beschränkt, bedeutet dies für den Drehbuchautor, dass er seine Geschichte und die Gefühlswelt seiner Figuren nur mit dem, was der Zuseher sehen und hören wird, vermitteln kann. Der Drehbuchautor muss sich auf die Suche nach der Abbildbarkeit der Gefühle machen: nach der Brille am Nachtkästchen der toten Mutter; nach dem Ehering, der im Sand versunken ist; nach Blut- und Spermaflecken am Rücksitz des Opel Rekord; nach dem Schrei des Kaninchens, das getötet wird; nach einem ganz bestimmten Satz im Kauderwelsch aus Afrikaans und Englisch; nach Bildern und Worten, die bei der Erforschung des persönlichen emotionalen Gedächtnisses zutage treten.
›Wer will das schon sehen? Wer will ergriffen sein?‹ lässt Billy Wilder seinen frustrierten Drehbuchautor Joe Gillis am Schluss der vorhin zitierten Szene Betty Shaefer fragen.
›Natürlich wollen die Zuseher ergriffen sein, große Figuren und große Gefühle werden erwartet!‹ So lautete das Credo der Producer und Fernseh-Redakteure, die den Workshop während des vierten Blockseminars besuchten. Ich bin zwar nicht der Meinung, dass Drehbuchautoren immer den Wünschen der Producer und Redakteure folgen sollen, weil diese die Filme von morgen meistens nach den Rezepten von gestern machen wollen, aber der Ruf nach Gefühls-Kino und nach originären Figuren war nicht zu überhören. Was aber sonst ermöglicht Originalität, als der persönliche Zugang des Drehbuchautors und seine ganz persönliche Erfahrung?

Teilnehmer der Development Workshops 1999:

Spielfilmgruppe: Martin Bolik: ›Open Sky‹; Barbara Etz: ›Die Kandidatin‹; Annette Fuchs: ›Der Verrat‹; Marc Meyer: ›Felix, der Feuerwehrmann‹; Rosi Schneider-Mohamed: ›Sunzest‹; Anna Pein: ›Hilde‹ und Massoud Shabanpour: ›Briefe an Leila. Tagebuch eines Ausländers‹.
Dokumentarfilmgruppe: Bart van Esch und Martin Hansen: ›Napoleon aus Hannover‹; Mechthild Katzorke und Volker Schöwerling: ›Die Schatzinseloper‹; Christine Mast: ›Und alles weckte in mir das Verlangen, davonzulaufen und ewig zu bleiben...‹; Dagmar Mazelis-Figl: ›Kunstraum Hannover‹; Beate Middeke: ›Jesus Freaks‹; Volker Schröder: ›Das Kraftei‹; Günter Wallbrecht: ›Alles zu einem guten Ende bringen‹ und Mechthild Würth-Gassner: ›Die Leichenwäscherin‹.
Mentoren: Spielfilmgruppe: Hilde Berger (Österreich) und Dieter Berner (Österreich): Training und Schauspielübung. Dokumentarfilmgruppe: Jacek Blawut (Polen) und Andreas Voigt (Deutschland).
Gäste / Script Market (Oktober und Dezember 1999): Anne Baumann, ARTE; Ulrike Becker, SWR; Jochen Coldewey, Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur; Katja Frechen, PROVOBIS Berlin; Julia Gerdes, SWR; Andrea Hanke, WDR; Thomas Kufus, ZERO FILM; Frank Löprich, Ö-FILM Berlin; Ilonka Meier, MULTIMEDIA HAMBURG; Dr. Michael Meyer, Saarländischer Rundfunk; Klaus Schmutzer, ›A JOUR‹ Filmproduktion Berlin.
Förderer: Filmförderung aus Mitteln des NDR in Niedersachsen; Kulturelle Filmförderung des Landes Niedersachsen.
Träger: Film & Medienbüro Niedersachsen / DREHBUCH-WERKSTATT NIEDERSACHSEN. Kooperationspartner: Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel (Literaturabteilung: Dr. Olaf Kutzmutz und Verwaltung: Dirk Naumann).
Dank: Unser spezieller Dank für die Einladung nach Hamburg am 20.Januar 2000 und das konstruktive Gespräch mit Autoren der Spielfilmgruppe geht an Frau Doris Heinze und die gesamte Spielfilmredaktion des NDR. Wir danken Karsten Münkemeyer vom Palast Kino Gloria in Wolfenbüttel für die problemlose Organisation der Filmvorführungen während der Development Workshops.