Drehbuchschreiben in Wolfenbüttel oder

Über die Vorzüge desÄpfelpflückens

David Selznick, der zwar inmitten der Dreharbeiten Regisseure auszutauschen pflegte, aber sonst über einen großen Instinkt für erfolgreiche Themen verfügte (er holte u. a. Alfred Hitchcock nach Hollywood), verlangte von seinen Drehbuchautoren vertraglich, daß sie Tag für Tag von 9.00 bis 15.00 Uhr in den kleinen Studiobüros an ihren Stoffen fleißig arbeiten. Hitchcock, der das Drehbuchschreiben eher als lästig empfand und das Filmemachen stets mit Essen, Spazieren, Plaudern und Lachen zu verbinden wußte und ausgiebige Erholungspausen in den Arbeitstag hineinlegte, hatte sich dieser Forderung nur in Ausnahmefällen d. h. aus rein taktischen Gründen gebeugt. Er blieb bis ans Ende seiner Tage Gegner der langen Drehbuchsitzungen, witzelte über Selzniks ›Textarbeiter‹ und hielt nichts von (mit Sitzfleisch) erzwungenen Lösungen eines dramaturgischen Problems: letztendlich würden sie ohnehin im Papierkorb landen.

Dabei war Hitchcock unentwegt mit dem Filmemachen beschäftigt, auch dann, wenn er scheinbar nichts tat und ›nur‹ den Menschen zusah oder sie nach ihren Vorlieben für Speisen oder ihren Lebensstil ausfragte. Er teilte wohl die Meinung eines anderen großen Beobachters: Sir Isaac Newton, der schon mehr als zweihundert Jahre vor Hitchcock eindrucksvoll belegt hat, daß es der Erkenntnis mehr dient, träumend unter einem Apfelbaum zu liegen, als grübelnd am Schreibtisch zu sitzen. Die Idee der Gravitation wurde im elterlichen Garten der Familie Newton geboren, in dem der junge Physiker – unter einem Baum liegend - die zu Boden fallenden Äpfel beobachtete und sich über jene Kraft, die die Ursache ihres Falls ist, wunderte. .

Einsteins Formel

Ein anderes Genie des zu Ende gehenden Jahrtausends: Albert Einstein sah sich bekanntlich als ›neugieriges Kind‹ an, das unentwegt scheinbar einfache Fragen stellt. Während er die Lichtstrahlen der untergehenden Sonne an einem See in Bayern beobachtete, fragte er sich – damals zehnjährig – ›was wäre, wenn ich auf einem Lichtstrahl reiten würde?‹ Diese kindliche Frage war der Anfang der Speziellen und Allgemeinen Relativitätstheorie. Die bekannteste Formel der Physik, die ohne Albert Einsteins ›was wäre, wenn...‹ Frage höchstwahrscheinlich nicht entstanden wäre, verweist auf die Äquivalenz zwischen Energie und Materie. Einfach ausgedrückt heißt ›E= mc2‹ , daß die Energie eines Körpers enorm werden kann, wenn sie freigesetzt wird.

Natürlich kann man die Drehbücher nicht mit einer Lichtgeschwindigkeit schreiben und auch die Masse des Drehbuchs dürfte bei der Beurteilung seiner künstlerischen Qualität kaum eine Rolle spielen. Und doch können wir Begriffe wie Zeit, Raum und Energie auf das Drehbuchschreiben anwenden. Die Zeit zum Beispiel ist beim Drehbuchschreiben ein relativer Begriff: sie vergeht langsam, wenn dem Autor keine Lösungen mehr in den Sinn kommen, wenn er ohne ersichtlichen Grund steckenbleibt und nach und nach die Lust am Schreiben (und den Glauben an sich selbst) verliert. Dieselbe Zeit vergeht wie im Flug, wenn die erdachten Figuren das Arbeitstempo diktieren, zum Eigenleben erweckt werden, ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, wie von selbst die richtigen Sätze zu sprechen beginnen.

Und die Energie? Erfolgreiche, bewegende Drehbücher sind nie nur das Ergebnis des Einzelnen, ebensowenig, wie ein wirklich guter Film nur das Ergebnis der Arbeit des Regisseurs ist. Vielmehr ist das gute Drehbuch das Ergebnis, das sich mit Einsteins Formel vergleichen läßt: es scheint eine Energie eingefangen zu haben, die zuvor durch mehrere ›Körper‹ freigesetzt wurde: eigene und fremde Träume, Wünsche, Konflikte, Probleme, Sehnsüchte, Abenteuer, Menschen, denen man in ungewöhnlichen Situationen begegnet ist, Gespräche des Autors mit befreundeten Menschen, eigene persönliche Erfahrungen, Kritik der Schauspieler, Hinweise der Kameramänner, und, und, und. Und immer wieder können wir beim guten Drehbuch feststellen, daß der Autor sein Handwerk sehr gut beherrscht, doch nicht nach bekannten ›Strickmustern‹ von plot zu plot erzählt, sondern uns in den Bann seiner phantasievollen, kühnen ›Achterbahnfahrten‹ mit unerwarteten Wendungen zieht – sprich: seinen unverwechselbaren, individuellen Blick auf die Welt und die Menschen so offenlegt, als ob wir mit den Augen der Figuren schauen würden, an ihrem Leben teilnehmend und um sie bangend oder mit ihnen lachend.

Aristoteles ›Poetik‹

Wer Aristoteles ›Poetik‹ kennt, die bis heute – mit kleinen Modifizierungen – eine Pflichtlektüre für angehende Dramaturgen und Autoren ist, mag sein systematisches, forschendes Denken und die Aufforderung zur ständigen Beobachtung des Gegebenen, besonders in der schnellebigen Zeit der Postmoderne, als lästig empfinden. Und doch sehen wir bei allen erfolgreichen Filmen, daß die von Aristoteles formulierten Gesetzmäßigkeiten befolgt werden: vom Klassiker Bergmann und Hollywood-Star Steven Spielberg ebenso wie vom Rebellen Jim Jarmusch oder den Kino-Individualisten Nanni Moretti, Woody Allen oder Angel Lee. Begriffe, mit denen Aristoteles u. a. das Wesen der Tragödie und Komödie beschrieben hatte: Notwendigkeit, Wahrscheinlichkeit, Charakter, Erkenntnisfähigkeit der Figur oder Hindernis haben ihre Gültigkeit behalten und – wenn auch abgewandelt – helfen auch den amerikanischen Script-Pädagogen, dem angehenden Drehbuchautor eine Orientierung im Dickicht der zu erzählenden Geschichte zu geben.

Doch im Gegensatz zu den amerikanischen Autoren, die ihre Geschichten unter der kritischen Anleitung der ›Developer‹ gern umschrieben, gehen die deutschen Autoren noch zögerlich auf ähnliche Angebote ein. Zum Teil führen sie ihre Abneigung gegenüber der ›Einmischung von außen‹ auf nicht immer positive Erfahrungen mit den Fernsehredakteuren zurück, die, statt das Feingefühl oder zumindest Neugier bei der Lektüre und Besprechung walten zu lassen, dem Autor die Wahrheit über den vorgelegten Stoff wie mit dem nassen Tuch so lange um die Ohren gehauen haben, bis er – verärgert, enttäuscht und entmutigt, die Story in die Ecke geschmissen hat. Zugleich zeigen sich viele Autoren erstaunlich allergisch, wenn ihre Auftraggeber, Förderer oder Kollegen konstruktive Fragen wie z. B. ›Warum tut deine Figur das?‹ oder ›wieso hat deine Geschichte kein Ende?‹ zu stellen wagen. Dabei kann eine konstruktive Kritik oft ein Schlüssel sein, der die Tür zu einem originellen Einfall oder zur spannenden Figur öffnet und aus einer Sackgasse der Banalitäten heraus führt.

Development Workshops

Hier setzt das Konzept der ›Development Workshops‹ der beim Film & Medienbüro Niedersachsen angesiedelten Drehbuch-Werkstatt an. Die acht ausgewählten Autoren werden unter der behutsamen, aber auch viel Geduld, Kraft und Disziplin fordernden Anleitung durch vier eingeladene Gastdozenten an das Grundthema der Geschichte herangeführt und können dann – Schritt für Schritt – viele dramaturgische Möglichkeiten, die der jeweilige Stoff bietet, ›durchspielen‹. Fern vom Streß und Produktionsdruck werden sie nicht nur an den Ideen für einen abendfüllenden Kino-Spielfilm, hochwertigen Fernsehfilm, kreativen Dokumentarfilm oder eine spannende Dokumentation arbeiten sondern auch über das Grundsätzliche in ihrer Arbeit diskutieren, um dann – jeder für sich – die Lösungen, Anregungen und Kursänderungen in die Tat umzusetzen. Im Grunde genommen steht im Mittelpunkt der Development Workshops eine Entwicklung der Drehbücher, die bereits Aristoteles seiner forschenden Arbeit zugrundegelegt hatte: das ›Gegebene‹ durch genaue Beobachtung und durch eigene persönliche Erfahrung den anderen – den künftigen Zuschauern – zugänglich, verständlich und interessant genug machen, um von dort aus, in das Verborgene vorzustoßen, zu den tieferen Gründen und zu den tiefsten Ursachen unseres Handelns, Fühlens, Denkens.

So gesehen sind die Seminare in Wolfenbüttel, die die Drehbuch-Werkstatt Niedersachsen in Kooperation mit der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel an einem Ort anbietet, der direkt gegenüber dem einstigen Domizil von Gotthold Ephraim Lessing liegt, dem Newtonschen Garten nicht unähnlich. Warum allein an einem Schreibtisch grübeln statt die fallenden Äpfel – sprich: die Energie, Erfahrungen und Fähigkeiten der anderen Kollegen aufzulesen? Unsere Äpfel sind die Lösungen, die einem in der Einsamkeit des Schreibens vielleicht gar nicht in den Sinn gekommen wären, die in der Gruppe der schreibenden Kollegen freigesetzte Energie, die – wenn sie nur eingefangen wird – alle Schreibblockaden und viele Ängste, die man ja sonst beim Schreiben erlebt, überwinden kann.

Werden die Autoren auch Erfolg haben? Eine Garantie dafür gibt es freilich nicht, denn – schauen sie nur auf das heutige dänische Kino – das Gedeihen der Kinematographie ist immer das Endergebnis mehrerer Faktoren, ein Prozeß, der lange dauert bevor er auch die geistigen Früchte abwirft. Den ersten Schritt, den werden wir in Wolfenbüttel tun, in der Zuversicht, daß die ausgewählten Autoren die kleine, malerische Stadt als einen idealen Arbeitsort kreativ nutzen werden und den permanenten Leistungsdruck, dem Filmemacher besonders ausgesetzt sind, zumindest für eine bestimmte Zeit aufgeben werden, zugunsten der Reise ins Innere der Figuren und zur Erforschung eigener, vielleicht noch verborgener Quellen der Kreativität.

Dann wird es wohl möglich werden, ein Drehbuch zu schreiben, das einem ›Ritt auf dem Lichtstrahl‹ gleicht.

(Dorota M. Paciarelli, Leiterin der Drehbuch-Werkstatt Niedersachsen)