Filmfestival-Rückschau

IDFA Amsterdam 
TUF Osnabrück 
HBK-Filmklasse beim filmfest Braunschweig 
MuuMediaFestival Helsinki 
 
Int. Documentary Filmfestival Amsterdam (IDFA), 25.11.-3.12.98:

Dokumentarfilm = Big Business?

›Documentary suddenly Hollywood´s stepchild no more‹ und ›Documentary, suddenly chic‹ zitiert das Vorwort des diesjährigen IDFA-Kataloges amerikanische Fachzeitschriften. Ist in den USA das Interesse an Dokumentarfilmen gestiegen, wittert die Filmindustrie hier das Big Business? Gerade für den TV-Bereich gilt der Dokumentarfilm zurecht als ein gutes Transportmittel von größerer Seriösität, als Gegenpol zur allgemeinen Seichtigkeit des Mediums. Deswegen müssen Dokumentarfilmer die Grenzen ihrer Integrität genau fixieren, um ihre Arbeit nicht verflachen zu lassen; sich gut verkaufen, aber sich nicht kaufen lassen.

Nick Broomfield (Großbritannien) hat sich gut verkauft, aber nicht kaufen lassen.

Big Danger!
Nick Broomfields KURT AND COURTNEY ist für die BBC produziert worden. Anfänglich war auch eine amerikanische MTV-Tochter beteiligt, die aber ebenso wie der US-Major ›Universal‹ mitten in der Produktion absprang.
Warum?
Bei seiner Recherche über Leben und Tod des Nirvanasänger Kurt Cobain stieß der Filmemacher auf den entschiedenen Widerstand der Witwe Courtney Love. Der Film beginnt wie ein MTV-kompatibles Rockumentary: Broomfield sucht Zeugen zu Cobains suizidalem Leben auf, gerät dabei immer stärker auf Kollisionskurs mit den Interessen Courtney Loves. Diese sieht ihr neues Image als Filmstar, als neue Hollywood-Diva, bedroht und hetzt ihre Anwälte auf Broomfield. Seine US-amerikanischen Geldgeber ziehen sich zurück. Thema des Films wird plötzlich das Ausmaß der Kontrolle, die Topkünstler in der amerikanischen Unterhaltungsindustrie umgibt. Der Regisseur läßt die Zuschauer an dieser Entwicklung teilnehmen, seine Off-Stimme erzählt in nüchternen Worten, er kreiert die Öffentlichkeit, die Courtney Love vermeiden will. Auch in den Interviewsituationen ist er ständig präsent. Sein investigativer Stil - doing a Broomfield sagen Dokfilmer dazu - ist ein spontanes sich der jeweiligen Person oder Situation anpassen, mit gezücktem Mikro auf die Gesprächspartner zugehen. Er bringt die Interviewten zu extremen, höchst widersprüchlichen Aussagen zur zentralen Frage der ungeklärten Todesumstände des Grunge-Rockstars Cobain.
Beängstigend bleibt der Erfolg Courtney Loves auf US-amerikanischem Terrain: Ausgerechnet Robert Redfords ›Sundance Film Festival‹ - das US-Festival für Independent Film - nimmt den Film aus dem Wettbewerbsprogramm. Der Film läuft parallel sehr gut auf ›Slamdunk‹, dem Off-Festival in Sundance. Kein kommerzieller Verleih will sich die Finger an KURT AND COURTNEY verbrennen, nur das Off-Kino ›Roxy‹ in San Francisco zeigt ihn. Die EMI Music Publishing verbietet den Einsatz von Nirvana-Songmaterial.

Big Style
Während KURT AND COURTNEY 1998 auf den ersten Vorführungen auf der Kölner Popkomm. und beim Filmfest Hamburg im Programm untergeht, wird er in Amsterdam zum Medienthema Nr. 1. Seine Entstehungsgeschichte erzeugt einen Overkill an Interesse, dessen Erwartungsdruck der Film kaum standhalten kann. Der sensible Junkie Kurt Cobain gibt als Persönlichkeit nicht viel her, sein interviewtes Umfeld hat einen deprimierenden Charakter. Spannend ist das Verhältnis zwischen Broomfields Stil, was er aus den Menschen an Reaktionen herausholt und der perfekt integrierten Geschichte der Behinderungversuche seiner Filmarbeit. Broomfields Preis für die Wahrung seiner Integrität ist, wie er selbst in Amsterdam zugab, das der Film ›rough‹ geworden ist. Cobains Tod schätzt er als ›enabled suicide‹ ein.

THE BIG ONE
An Brisanz gewinnt die ganze Affäre durch das Schicksal von Michael Moores THE BIG ONE, dessen US-Verleih vom US-Multi NIKE wegen eines Manager-Interviews zu Kinderarbeit derart unter Druck gesetzt wurde, daß die Kopie erst kurz vor Festivalbeginn freigegeben wurde.

Man must Dance
ist die Devise vom LUCKY PEOPLE CENTER INTERNATIONAL. Die schwedischen Filmemacher Erik Pauser und Johan Söderberg haben rund um die Welt Musik und Tanz aufgenommen, den Herzschlag unserer Zeit eingefangen und mit Techno- und Housemusik zu einer Ton- und Bildcollage verschmolzen. Das Wagnis ist dank der perfekten Integration der Originaltöne in die Dynamik des Klangteppichs rundum gelungen und reißt den Betrachter mit auf eine globale Tour zum Thema Ekstase, Erfüllung und Glück.

Highlights of the Lowlands
DE KEUKEN VAN KOK und WATER EN VUUR, DE ROERIGE GESCHIEDENIS ROND MARINUS VAN DER LUBBE sind solide niederländische Produktionen über das Wahlkampfteam des siegreichen Wim Kok, Kandidat der ›Arbeiterpartei‹, PvdA sowie über die Person des Reichstagsbrandstifters van der Lubbe. Zum deutschen geistigen Brandstifter Ernst Jünger, von Adolf Hitler persönlich 1926 als ›einen der wenigen starken Gestalter des Fronterlebnisses‹ bezeichnet und später protegiert, pilgerten 1997 schwedische Jünger: 102 YEARS IN THE HEART OF EUROPE - A PORTRAIT OF ERNST JÜNGER. Hat sie das harsche Lachen des Ordnung über alles liebenden Pedanten nicht irritiert, wenn die Sprache auf Hitler und Goebbels kam?

Nazis again
Wer Claude Lanzmann sagt, meint SHOAH. Aus der Masse seines Materials hat er den Schweizer Maurice Rossel vom Internationalen Roten Kreuz herausgepickt. Ungeheuerlich, wie sich dieser von den Nazis bei den ›Besuchen‹ in Theresienstadt und Auschwitz an der Nase herumführen lassen hat. UN VIVANT QUI PASSE (A Visitor from the Living).
SILENCE war der allererste gezeichnete Animationsfilm im Programm. Thema sind durch Archivaufnahmen verdichtete Kindheitserinnerungen an die NS-Zeit sowie das Schweigen danach.

Apartheid
THE MAN WHO DROVE WITH MANDELA von Greta Schiller (Autorin von PARIS WAS A WOMAN) ist ein gelungenes Beispiel eines teilweise nachinszenierten Dokumentarfilms. Der bereits verstorbene Theaterintendant und Schriftsteller Cecil Williams wird vom Profi-Schauspieler Corin Redgrave in einer wie eine Theaterbühne ausgeleuchteten Wohnung nachgespielt; eine Fiktion, die den exzentrischen Engländer exzellent charakterisiert. Als homosexueller Aktivist in den Vierzigern und Fünfzigern hat er in Südafrika Anti-Apartheid-Arbeit geleistet und Nelson Mandela 1962 nach Südafrika zurückgeschmuggelt.

Amsterdam
bot dieses Jahr zum elften Mal engagierten, mit persönlicher Handschrift versehenen Werken ein Forum: 191 Dokumentarfilme wurden in zwölf verschiedenen Programmreihen präsentiert, weitere Projekte auf einem Ko-Finanzierungsmarkt gehandelt, andere fertiggestellte im DOCS FOR SALE präsentiert.
Das Festival hat expandiert: neben dem mit historischem Mobiliar ausgestatteten Nederlands Film Museum ist das am zentralen Leidseplein gelegene ›City‹ mit sieben Sälen die neue location. Die Stimmung ist geprägt vom angeregten Austausch der Szene, die durch Lektüre der täglichen Festivalzeitung mit Artikel-Überschriften wie: ›Bus vol communisten naar Leidseplein‹ versorgt wird.
Amsterdam mit seinen ständig steigenden Besucherzahlen und sich vergrößernden Produktionsmöglichkeiten ist neben den entstehenden Dokumentarfilm-TV-Kanälen und anderen Kommunikationswegen sicher ein Indiz für mehr Wertschätzung des Genres. Warum bloß sträubt sich dann die alte Tante Berlinale, den ›German Documentaries‹ dieses Jahr ein Dach auf dem Filmmarkt zu bieten?  (Wolfgang Mundt)


TAGE DES UNABHÄNGIGEN FILMS Osnabrück:

Im Rausch von Bildern und Promille

Die 14. TAGE DES UNABHÄNGIGEN FILMS, veranstaltet vom Osnabrücker FilmForum e.V., waren vom Publikum so konstant gut besucht wie noch nie zuvor. An drei Filme wurden Preise vergeben.

Ein Tablettwagen mit drei Stockwerken wird aus dem Saal geschoben. Er ist eng bestückt mit leeren Gläsern und Flaschen. Die Thekenkraft der Lagerhalle bemüht sich angestrengt, alles heil durch die Menschenmasse zu bugsieren. Was war hier los?

›Kurze...‹
Das ›Volle Pulle‹-Programm ist gerade zu Ende. Neun Kurzfilme über das Trinken und Betrinken haben die Zuschauer in einen schwindelerregenden Zustand versetzt. Der Geschmack des italienischen Kräuterlikörs, der beim Einlaß kostenlos verteilt wurde, liegt ihnen noch auf der Zunge. ›Die lange Nacht der Kurzen‹, so der Untertitel des Programms, fängt für manche jetzt erst an.

›... und lange‹
Doch geschwächelt wird nicht! Am nächsten Tag ist das Haus schon wieder voll - egal, zu welcher Uhrzeit. Auch der erst kürzlich im Fernsehen ausgestrahlte Lars-Becker-Film erweist sich nicht als faules Ei im Spielplan. Während im Saal die Besucher den lauen Lenz der Provinzkomödie genießen, regt sich im Spitzboden der laute Widerstand gegen den Castor-Transport: ›Das Gelbe vom Ei‹ versus ›Trainstopping‹. Beide Filme finden ihre Zielgruppe.
Ein sehr bunt gemischtes Publikum kommt abends zu ›Shall we dance?‹. Der japanische Tanzfilm um einen verheirateten Mann, der sich in seine Tanzlehrerin verliebt, vereint völlig unterschiedliche Typen: Rastalocke und Föhnfrisur, Trenchcoat und Lederjacke. Wie an allen Tagen des Festivals verteilen sich so viele Zuschauer auf die einzelnen Programme wie schon seit Jahren nicht mehr. Die Jury mischt sich oft unter die Zuschauer. ›Wir haben uns bei der Auszeichnung schwer getan, weil so viele unterschiedliche Beiträge in direkter Konkurrenz stehen‹, sagt das Jurymitglied Gerd Gockell (Hannover). Doch die Not macht erfinderisch. Und kurzerhand wurde etwas Neues eingeführt: die lobende Erwähnung. Der Ludwigsburger Filmstudent Michael Rösel (Hildesheim) wird für seinen Ideenreichtum in ›Flexus‹ und ›Black Cat‹ belohnt. Besonders die Schwester der Kettensäge, die Flex, scheint es den Juroren angetan zu haben.

Preisgeld von 2.100 DM
Die Preisgelder gehen derweil an drei zu gleichen Teilen an die Filme ›Zwischen vier und sechs‹ von Corinna Schnitt (Köln), ›La Mort du Chanteur de Mexico‹ von Laurent Firode (Paris) und ›Eine Rose aus Afrika‹ von dem Iraner Amir Razi (Rotterdam). Letzterer erzählt sehr zurückhaltend vom Schicksal eines afrikanischen Waisen, der mit seiner Tante in Holland um Asyl bittet - vergebens. Gerade als der kleine Rashid sich mit einem gleichaltrigen Mädchen angefreundet hat, muß er das Land wieder verlassen. Dieses melancholische, aber nie rührselige Werk beweist, ›daß ein politischer Film nicht per se als Kasteiung des Zuschauers gestaltet werden muß‹, so die Begründung der Jury.

Emigration
Ebenfalls auf der ständigen Suche nach einem besseren Leben in einem sicheren Land ist die Hauptfigur in ›Suzie Washington‹, ein Film außerhalb des Wettbewerbs. Er beschreibt die Odyssee einer Frau aus Georgien, die sich nichts sehentlicher wünscht, als nach Amerika zu gelangen. Aber ihre Reise endet abrupt in Wien. Mit ihrer großen Tasche im Arm irrt sie durch Österreich und nur der Zufall ist auf ihrer Seite.
Auf seiten des Publikums ist nach fünf Tagen medialer und anderer hochprozentiger Berauschung die Stimmung noch immer nicht verblaßt - nur ein bißchen verkatert. Daß die ›15. Tage des unabhängigen Films‹ im Jahre 2000 es schwer haben werden, diesen Erfolg noch zu toppen, ist offensichtlich. Doch Wunder gibt es immer wieder. (Kim Kruse in der Neuen Osnabrücker Zeitung, 1.2.1999)


HBK-Filmklasse, filmfest Braunschweig ´98:

Alles dreht sICH

Das hat nun schon Tradition: Daß beim filmfest Braunschweig die Filmklasse der HBK (Hochschule für Bildende Künste Braunschweig) die Arbeiten des zurückliegenden Jahrgangs vorstellt: 13 Beiträge 1998, mit einer Ausnahme Videos, circa 90 Minuten Dauer. Der Saal im LOT ausverkauft, ein Publikum, das neugierig war und am Gespräch regen Anteil nahm. Demnach keine Vorstellung nur für die FilmemacherInnen und deren Anhängerschaft.

Man kennt den guten Ruf der von Birgit Hein und Gehard Büttenbender sowie Karl Heinrich Weghorn und Peter Dargel betreuten Filmklasse; der muß sich aber Jahr für Jahr erneut bestätigen. Um es gleich zu sagen: Der Jahrgang ‘98 erfüllte aus meiner Sicht wieder die Erwartungen.
Bjoern Melhus (NO SUNSHINE) und Constanze Westhoven (LAUTHALS) hatten 1998 je einen der Förderpreise der niedersächsischen Künstlerförderung erhalten. Auch bei den übrigen Arbeiten war Stringenz zu spüren, will sagen, es gab da keine oder keine allzu große Diskrepanz zwischen dem, was offensichtlich beabsichtigt, und dem, was dann schließlich auf der Leinwand zu sehen war. Verstecken mußte sich also niemand.
Denkt man dabei an die Jahresproduktionen anderer Filmklassen oder -hochschulen, dann ist dies schon bemerkenswert, und ich meine, es wird damit zu tun haben, daß die Filmklasse der HBK einer der wenigen Orte ist, an denen die Ausbildung noch zweckfrei erfolgt, wo nicht Standards eingeübt werden, an denen man sich beweisen soll, damit Werbebranche oder Vorabendserien nicht an Nachwuchsmangel zugrunde gehen.
Zweckfreie Ausbildung heißt: dem einzelnen helfen, sich in seiner Kunst zu verwirklichen. Infolgedessen sind die Arbeiten, die an Orten wie der HBK entstehen, keine genormten Visionen, sondern individuelle (wenn auch nicht frei von Einflüssen, wer würde anderes auch erwarten). Gleichwohl sind sie einander ähnlich - wenigstens insofern sie Ausdruck personeller Erfahrungen sind, speziell jener, wie man sie in einem Alter macht, in dem man naturgemäß noch stark mit sich selbst beschäftigt ist. Denn von Ausnahmen abgesehen, beschäftigen sich die Filme generell und explizit mit dem ICH (war dies eine Vorgabe?). Damit endet die Gemeinsamkeit: die einen nehmen´s ironisch, die anderen mit Erstaunen oder Verwunderung, andere mit Ratlosigkeit, oder man wirft einen subjektiven Blick auf die Welt, der zum Beispiel durch eine bestimmte Auswahl der Bilder und deren Montage bestimmt ist - wie etwa bei Andreas Zech (HYSTERIA) oder Klaus Weingarten (DENKEN ZWECKLOS), die eine vergleichbare Methode anwenden: sie montieren Bilder, kurze Einstellungen, Bewegungen, so von einem, der davonreitet, oder einem Schiff oder einem arbeitenden Pumpwerk (Zech) oder von Autofahrten an Häuserfronten entlang (Weingarten) zu rhythmischen Bildfolgen, die sich zumTeil wiederholen und/oder andererseits einer Materialzersetzung oder -verschmutzung ausgesetzt sind. Hinzu kommt entsprechender Ton (Geräusch/Sound): da drückt sich denn das Ich indirekt aus, es simuliert vielleicht einen Trip (oder erinnert sich an einen), jedenfalls ist in desem Fall der Ich-Bezug vordringlich als Lebensgefühl präsent.
Bei Iris Selke (DER LEGUAN) vertritt ein Leguan metaphorisch das Ich. In seinem Terrarium versucht er vergeblich, die Glaswand hochzukrabbeln. Auch Selkes Film ist eine Bildmontage mit wiederkehrenden Elementen: U-Bahn, Hotelflur, Aufzug, Rolltreppe in einem Kaufhaus und ähnliches, hier eher zu einem Traum ohne Anfang und Ende, also zu einem Alptraum verdichtet.
Ist das Ich auch Thema in PASSING CURRENT (von Judith Pfeifer)? Wenn, dann nur ziemlich verhalten. Der Film: Eine Tanz-Performance in etwa, deren Choreografie allerdings erst durch den Schnitt entstand. Die Kamera nimmt verschiedene Positionen wahr, Bewegungen vor allem, und immer wieder dieselben: eine Frau, die ein Fenster öffnet und schließt: fließend sind diese Bewegungen an einem Ort ohne Raum, nur eigentlich im Licht, in den Schatten, Linien, Umrissen. Da scheint das Ich mir mehr ein lyrisches zu sein (wie in Gedichten).
Bei Susanne Winterling (DRUMS) spielt es im Sinne einer Thematisierung keine Rolle. Der Film ist das rhythmisch faszinierende Ergebnis einer Montage aus Groß- und Detailaufnahmen während eines Trabrennens, aufgenommen vom Sulky aus, auf die Hinterhände des Pferdes gerichtet (zumindest hatte ich den Eindruck, daß dies so ist), kombiniert mit den im Tempo sich steigernden Hufschlägen des Pferdes.
Ihr Film RACING ist die burleske Ergänzung: ein ›Kurzfeature‹ von anderthalb Minuten über den Start eines Windhunderennens, stumm.
Jochen Schlöder (JOHN WOO’S ›THE KILLER‹) macht sich und uns ein Vergnügen, indem er wie aus dem Stegreif die Geschichte eines Räubers und eines Polizisten erzählt, worin es zahlreiche (natürlich gewollt) unausgereifte Verwicklungen gibt. Optisch wird die Geschichte durch animierte Figürchen begleitet. Der Film bezieht seinen komischen Effekt aus der Trivialisierung einer Trivialgeschichte.
Damit bin ich bei den Erzähl-Filmen angelangt, sofern man bei dieser Art Filmen von erzählen sprechen kann. Mit Narration hat das nichts zu tun. Die Filme erzählen von der Person des Filmemachers / der Filmemacherin: vom Ich, von einzelnen Aspekten, Gefühlen.
Noch relativ verhalten gestaltet sich die Anwesenheit des Ich bei Bei-Kyoung Lee in seinen Filmen ANGST und SPANNUNG, die beide durchgehend mit Doppelbelichtungen arbeiten. Vor einem vorbeiziehenden, meist durch Überbelichtung flüchtig oder unscharf wirkenden Hintergrund (Wald, Wasser etc.) schiebt sich blass, nur in Maßen deutlich das Gesicht des Autors oder es sind Hände zu sehen.
Zwischenschnitte wie in SPANNUNG wirbelnde Schienenstränge hinten aus dem fahrenden Zug aufgenommen, wirken wie ein Schrei. Die Geräusche tun ein übriges, den Eindruck des Alptraumhaften zu verstärken.
Anders Anna Gollwitzer (A TRAVELLER STORY - EINE ORDNUNG DER DINGE), deren Arbeit sich an Foucaults ›Ordnung der Dinge‹ zu orientieren vorgibt, in Wirklichkeit aber einen Wust disparaten Materials zusammenwürfelt, was eher einem Chaos gleicht als einer Ordnung. Ich und Chaos sind so - unausgesprochen - eins, die Identität ist zerstückelt, vielmehr sie setzt sich aus heillos Unterschiedlichem zusammen - englischen Sprachfetzen, einem Kurs offenbar für Schauspieler, Musikproben, einer alpenländischen Ferienlandschaft, Schnipseln, die aus Büchern oder sonstwo ausgeschnitten wurden, einem Picknick im Grünen, Kirchenglocken, und und und.
Bjoern Melhus (NO SUNSHINE, schon vielerorts besprochen) splittet sein Ich in vier gleiche geschlechtsneutrale (Klon-)Personen auf, von denen eine offenbar die Frechheit oder den Mut oder den Zwang hat, sich verändern zu wollen, was zu seiner Auslöschung führt.
Andrea Otero (DER VERLORENE MOND) sieht sich dabei zu, wie sie allerlei seltsame Gegenstände gebiert - unter ihrem Rock kriechen Schmuck, Glasvasen, ein Porzellanpferdchen, Spielzeugautos und manches mehr hervor, sie nimmt die Gegenstände und stellt sie in ein Regal. Nachtblau und blutrot sind die vorherrschenden Farben: Mond und Menstruation, aber der Mond ist nur eine Lampe und das Blut nichts als Spielzeug, offenbar ist da ein Ich, das sich noch nicht mit seiner Situation abfinden will. Oder möglicherweise eher: es hat diese Übermystifizierung von Mond und Menstruation gründlich satt.
Sich nicht mit etwas abfinden-können oder -wollen. Auch für Constanze Westhoven (LAUTHALS) ist das ein Thema. Womit sie sich nicht abfinden kann, bleibt freilich (in einem positiven Sinne) unscharf: ist es die christliche Erziehung, ist es diese Religion, die aus Frauen Madonnen macht, ihnen aber die Dornenkrone verweigert? Jedenfalls spielen Dornen eine zentrale Rolle, wie auch Madonnenfiguren, deren Gesichter (Mund- und Halspartie: lauthals) von unten her mit der Handkamera so intensiv abgetastet werden, daß man meint, sie begännen zu leben, während eine andere Kamera das Gesicht der Autorin, die eine Dornenkrone trägt, in Kontrast dazu nun schräg von oben, ebenfalls abtastet, so daß sie mehr und mehr einer Statue gleicht, bis ihr schließlich das Blut in Strömen vom Haupt über das Antlitz rinnt. Mit den Händen verwischt sie dabei das Blut. Keine Metaphorik, keine greifbare Symbolik, und dennoch beides, wiewohl gleichzeitig Dokumentation, scheinbar reales Geschehen, Handlung, alles in einem... Die Musik von Dirk Schaefer verstärkt Faszination und Befremdlichkeit (eine ganz andere - auch zutreffende -Musik hat er für Otero kompniert).
Annette Hanisch (SNOWWORLD) stellt sich vor eine Leinwand. Sie hat eine Blume in der Hand (wie manchmal Heilige eine Lilie). Im Hintergrund, auf der Leinwand die Szene aus einem Spielfilm (›The Hunger‹): darin kommt eine Frau eine andere besuchen, die zunächst nur zögernd die Tür öffnet. Andeutungsweise handelt es sich um eine lesbische Begegnung. Annette Hanisch versucht nun, sich auf diese oder jene Art in die Szene hineinzubegeben, der einen, offenbar von ihr begehrten Frau (der, die zu Besuch kommt: Susan Sarandon) die Blume zu überreichen, was durch Bildstörung und dergleichen verhindert wird, aber nicht nur natürlich dadurch: letztendlich ist ihr Bestreben ein Ding der Unmöglichkeit, auch wenn es zum Schluß so scheint, als küßten sie sich endlich.
Das war nun wahrhaftig in diesem Programm der einzige Film, in dem es um eine zwischenmenschliche Beziehung ging, bezeichnenderweise sogar nur um eine zwischen Mensch und Idol. Das ist schon erstaunlich. Die Welt der FilmstudentInnen dreht sich nur noch um das eigene Ich und um sonst nichts mehr? Ich hoffe, die Frage klingt nicht zu moralisch, denn man kann sich das Programm gut und gerne zwei oder dreimal ansehen, ohne sich zu langweilen, Im Gegenteil: man entdeckt immer Neues. Und das ist doch was.
(Willi Karow)


MuuMediaFestival in Helsinki:

Herausragendes Programm und beeindruckende Projekte

Eine Reise wert war das 10. MuuMediaFestival in Helsinki. Die Festival-Direktoren Tiina Erkintalo, Pekka Kantonen und die Kuratorin Heidi Tikka hatten ein wirklich herausragendes Programm zusammengestellt.
Insbesondere die in Espoo - einem Vorort von Helsinki - vorgestellten Videoinstallationen und Internetprojekte waren beeindruckend.

Videoinstallationen und Internetprojekte
Hier wurden ältere Arbeiten wie z.B. ›emotions encoded‹ von Merel Mirage und ›Liquid Views‹ von Fleischmann, Strauss und Bohn (D) zusammen mit der neuen Arbeit ›Agatha Appears‹ der russischen Net-Künstlerin Olia Lialina (RUS) gezeigt. Darüberhinaus gab es ›Elective Affinity‹ von Sara Roberts (USA), ›Illumination I, On-line, Binary Man‹ von Barbara Konopka (POL), ›In Conversation‹ von Susan Collins (GB), ›Cyberflesh Girlmonster‹ von Linda Dement (AUS), ›Sovitus‹ von Heidi Tikka (FIN) sowie ›The Adventures of Blacky‹ des Duos Jeanne C. Finley & Johns H. Muse (USA) zu sehen. (http://www.espoo.fi/otso/eng/nyt.htm)

Events
Das MuuMediaFestival wurde von einer Reihe gleichzeitig stattfindender Events begleitet. Eines dieser Projekte war MOBIL ZONES, welches versuchte, die Auswirkungen der Globalisierung und der neuen Informationstechnologien auf den Stadtraum darzustellen - so wanderten beispielsweise Eva Hertzsch und Adam Page mit ihrer ›Sicherheitsschleuse‹ (SECUROPRODS) durch den in diesen Tagen zumeist strömenden Regen von Helsinki.
Denise Uyehara aus Los Angeles lieferte mit ihrer performance art investigation ›lost and found‹ eine äußerst sensibel gestaltete Arbeit ab: Gegenstände aus ihrem Besitz waren mit Zetteln versehen in Los Angeles und Helsinki ›verloren‹ worden, und die jeweiligen Finder konnten sie mit Bemerkungen zu ihren ›Verlusten‹ an Denise zurückgeben. In einer 1 1/2stündigen und sehr gut dramaturgisierten Performance wurden diese Objekte in Beziehung zu ihrem eigenen Leben und Erleben gebracht - und so schwankte die Veranstaltung zwischen sehr intimer Nähe und Aussagen völlig fremder Personen.
Mit weiteren MOBILE ZONES waren Roderick Buchanan, Susan Collins, Nick Crowe, Ulla Karttunen und Juha Nenonen vertreten.

Film- und Videoprogramm
Im Film- und Videoprogramm war von Festival-Direktor Pekka Kantonen ein Schwerpunkt auf die Mexikanische Medienkunst gelegt worden. Ein durchaus interessanter, hin und wieder aber auch allzusehr ins Ethnologische abgleitender Programmpunkt. Eingeleitet wurde das von Carlos Martinez Suarez präsentierte Programm mit einer Performance von Roberto de la Torre, welche sehr unterschiedliche Meinungen hervorrief.
Weitere Gäste im special-program vor Ort waren: Gianni Toti mit einer Retrospektive, Mike Jones von Film- und Videoumbrella London mit ›A Short history of Computer Animation‹, Annie Auchere Aquetaz von Imagepassage Annecy (F) mit ›young frensh Videoartist‹, Marikka Hakola (FIN) mit einer Werkschau und schließlich wir vom Medienhaus Hannover mit dem speziell für Helsinki zusammengestellten Programm ›Sound and image‹. Hier waren viele niedersächsische Medienschaffende vertreten, und es fand eine tolle Resonanz - ebenso wie unser Tourprogramm ›Eurovideoart-tour 6‹, welches vom Museum für neue Kunst in Pori, etwa 350 Kilometer westlich von Helsinki gelegen, eingeladen worden war. Die Präsentation vor dem mit einem überwiegend weiblichen Publikum gut besuchten Haus war so erfolgreich, daß weitere folgen sollen.

Kommunikation
In guter Erinnerung wird Pori uns übrigens auch aus einem anderen Grunde bleiben: bei einem Zug durch die Gemeinde mit dem Kurator Jari-Pekka Vanhala und Maikki Kantola von Pori-Videoworkshop bekamen wir eine ausführliche Lehrstunde über die feinen Unterschiede in der finnischen Braukunst...
Während in Pori die Kommunikation so auf Hochtouren lief, wurde sie in Helsinki leider etwas durch die neue Partnerschaft des 10. MuuMediaFestival mit dem modernen Kiasma-Kunstmuseum getrübt. Denn in dessen doch etwas sterilen Gängen und Räumen mit Rauch- und Mantelverbot konnte kaum eine kommunikative Atmosphäre entstehen - und dabei leben Video- und Filmkunstfestivals mit ihren vielen nationalen und internationalen Gästen im Grunde doch vielmehr vom intensiven Dialog als von der Reputation des Veranstaltungsortes! Dies bitte ich auch andere Festivalveranstalter zu bedenken!
Nichtsdestotrotz wurde beim 10. MuuMediaFestival in Helsinki ein erstes trilaterales (französisch-finnisch-deutsches) Treffen von Film- und Videomachern in Annecy vom 25. April bis zum 2. Mai 1999 verabredet. Partner sind AV-Arrki Helsinki, Imagepassage Annecy und das Medienhaus Hannover.
(Ekkehard Kähne)