Filmfestival-Rückschau |
Nick Broomfield (Großbritannien) hat sich gut verkauft, aber nicht kaufen lassen.
Big Danger!
Nick Broomfields KURT AND COURTNEY ist für die BBC produziert
worden. Anfänglich war auch eine amerikanische MTV-Tochter beteiligt,
die aber ebenso wie der US-Major ›Universal‹ mitten in der Produktion absprang.
Warum?
Bei seiner Recherche über Leben und Tod des Nirvanasänger
Kurt Cobain stieß der Filmemacher auf den entschiedenen Widerstand
der Witwe Courtney Love. Der Film beginnt wie ein MTV-kompatibles Rockumentary:
Broomfield sucht Zeugen zu Cobains suizidalem Leben auf, gerät dabei
immer stärker auf Kollisionskurs mit den Interessen Courtney Loves.
Diese sieht ihr neues Image als Filmstar, als neue Hollywood-Diva, bedroht
und hetzt ihre Anwälte auf Broomfield. Seine US-amerikanischen Geldgeber
ziehen sich zurück. Thema des Films wird plötzlich das Ausmaß
der Kontrolle, die Topkünstler in der amerikanischen Unterhaltungsindustrie
umgibt. Der Regisseur läßt die Zuschauer an dieser Entwicklung
teilnehmen, seine Off-Stimme erzählt in nüchternen Worten, er
kreiert die Öffentlichkeit, die Courtney Love vermeiden will. Auch
in den Interviewsituationen ist er ständig präsent. Sein investigativer
Stil - doing a Broomfield sagen Dokfilmer dazu - ist ein spontanes sich
der jeweiligen Person oder Situation anpassen, mit gezücktem Mikro
auf die Gesprächspartner zugehen. Er bringt die Interviewten zu extremen,
höchst widersprüchlichen Aussagen zur zentralen Frage der ungeklärten
Todesumstände des Grunge-Rockstars Cobain.
Beängstigend bleibt der Erfolg Courtney Loves auf US-amerikanischem
Terrain: Ausgerechnet Robert Redfords ›Sundance Film Festival‹ - das
US-Festival für Independent Film - nimmt den Film aus dem Wettbewerbsprogramm.
Der Film läuft parallel sehr gut auf ›Slamdunk‹, dem Off-Festival
in Sundance. Kein kommerzieller Verleih will sich die Finger an KURT AND
COURTNEY verbrennen, nur das Off-Kino ›Roxy‹ in San Francisco zeigt ihn.
Die EMI Music Publishing verbietet den Einsatz von Nirvana-Songmaterial.
Big Style
Während KURT AND COURTNEY 1998 auf den ersten Vorführungen
auf der Kölner Popkomm. und beim Filmfest Hamburg im Programm untergeht,
wird er in Amsterdam zum Medienthema Nr. 1. Seine Entstehungsgeschichte
erzeugt einen Overkill an Interesse, dessen Erwartungsdruck der Film kaum
standhalten kann. Der sensible Junkie Kurt Cobain gibt als Persönlichkeit
nicht viel her, sein interviewtes Umfeld hat einen deprimierenden Charakter.
Spannend ist das Verhältnis zwischen Broomfields Stil, was er aus
den Menschen an Reaktionen herausholt und der perfekt integrierten Geschichte
der Behinderungversuche seiner Filmarbeit. Broomfields Preis für die
Wahrung seiner Integrität ist, wie er selbst in Amsterdam zugab, das
der Film ›rough‹ geworden ist. Cobains Tod schätzt er als ›enabled
suicide‹ ein.
THE BIG ONE
An Brisanz gewinnt die ganze Affäre durch das Schicksal von Michael
Moores THE BIG ONE, dessen US-Verleih vom US-Multi NIKE wegen eines Manager-Interviews
zu Kinderarbeit derart unter Druck gesetzt wurde, daß die Kopie erst
kurz vor Festivalbeginn freigegeben wurde.
Man must Dance
ist die Devise vom LUCKY PEOPLE CENTER INTERNATIONAL. Die schwedischen
Filmemacher Erik Pauser und Johan Söderberg haben rund um die Welt
Musik und Tanz aufgenommen, den Herzschlag unserer Zeit eingefangen und
mit Techno- und Housemusik zu einer Ton- und Bildcollage verschmolzen.
Das Wagnis ist dank der perfekten Integration der Originaltöne in
die Dynamik des Klangteppichs rundum gelungen und reißt den Betrachter
mit auf eine globale Tour zum Thema Ekstase, Erfüllung und Glück.
Highlights of the Lowlands
DE KEUKEN VAN KOK und WATER EN VUUR, DE ROERIGE GESCHIEDENIS ROND MARINUS
VAN DER LUBBE sind solide niederländische Produktionen über das
Wahlkampfteam des siegreichen Wim Kok, Kandidat der ›Arbeiterpartei‹, PvdA
sowie über die Person des Reichstagsbrandstifters van der Lubbe. Zum
deutschen geistigen Brandstifter Ernst Jünger, von Adolf Hitler persönlich
1926 als ›einen der wenigen starken Gestalter des Fronterlebnisses‹ bezeichnet
und später protegiert, pilgerten 1997 schwedische Jünger: 102
YEARS IN THE HEART OF EUROPE - A PORTRAIT OF ERNST JÜNGER. Hat sie
das harsche Lachen des Ordnung über alles liebenden Pedanten nicht
irritiert, wenn die Sprache auf Hitler und Goebbels kam?
Nazis again
Wer Claude Lanzmann sagt, meint SHOAH. Aus der Masse seines Materials
hat er den Schweizer Maurice Rossel vom Internationalen Roten Kreuz herausgepickt.
Ungeheuerlich, wie sich dieser von den Nazis bei den ›Besuchen‹ in Theresienstadt
und Auschwitz an der Nase herumführen lassen hat. UN VIVANT QUI PASSE
(A Visitor from the Living).
SILENCE war der allererste gezeichnete Animationsfilm im Programm.
Thema sind durch Archivaufnahmen verdichtete Kindheitserinnerungen an die
NS-Zeit sowie das Schweigen danach.
Apartheid
THE MAN WHO DROVE WITH MANDELA von Greta Schiller (Autorin von PARIS
WAS A WOMAN) ist ein gelungenes Beispiel eines teilweise nachinszenierten
Dokumentarfilms. Der bereits verstorbene Theaterintendant und Schriftsteller
Cecil Williams wird vom Profi-Schauspieler Corin Redgrave in einer wie
eine Theaterbühne ausgeleuchteten Wohnung nachgespielt; eine Fiktion,
die den exzentrischen Engländer exzellent charakterisiert. Als homosexueller
Aktivist in den Vierzigern und Fünfzigern hat er in Südafrika
Anti-Apartheid-Arbeit geleistet und Nelson Mandela 1962 nach Südafrika
zurückgeschmuggelt.
Amsterdam
bot dieses Jahr zum elften Mal engagierten, mit persönlicher Handschrift
versehenen Werken ein Forum: 191 Dokumentarfilme wurden in zwölf verschiedenen
Programmreihen präsentiert, weitere Projekte auf einem Ko-Finanzierungsmarkt
gehandelt, andere fertiggestellte im DOCS FOR SALE präsentiert.
Das Festival hat expandiert: neben dem mit historischem Mobiliar ausgestatteten
Nederlands Film Museum ist das am zentralen Leidseplein gelegene ›City‹
mit sieben Sälen die neue location. Die Stimmung ist geprägt
vom angeregten Austausch der Szene, die durch Lektüre der täglichen
Festivalzeitung mit Artikel-Überschriften wie: ›Bus vol communisten
naar Leidseplein‹ versorgt wird.
Amsterdam mit seinen ständig steigenden Besucherzahlen und sich
vergrößernden Produktionsmöglichkeiten ist neben den entstehenden
Dokumentarfilm-TV-Kanälen und anderen Kommunikationswegen sicher ein
Indiz für mehr Wertschätzung des Genres. Warum bloß sträubt
sich dann die alte Tante Berlinale, den ›German Documentaries‹ dieses Jahr
ein Dach auf dem Filmmarkt zu bieten? (Wolfgang Mundt)
Ein Tablettwagen mit drei Stockwerken wird aus dem Saal geschoben. Er ist eng bestückt mit leeren Gläsern und Flaschen. Die Thekenkraft der Lagerhalle bemüht sich angestrengt, alles heil durch die Menschenmasse zu bugsieren. Was war hier los?
›Kurze...‹
Das ›Volle Pulle‹-Programm ist gerade zu Ende. Neun Kurzfilme über
das Trinken und Betrinken haben die Zuschauer in einen schwindelerregenden
Zustand versetzt. Der Geschmack des italienischen Kräuterlikörs,
der beim Einlaß kostenlos verteilt wurde, liegt ihnen noch auf der
Zunge. ›Die lange Nacht der Kurzen‹, so der Untertitel des Programms, fängt
für manche jetzt erst an.
›... und lange‹
Doch geschwächelt wird nicht! Am nächsten Tag ist das Haus
schon wieder voll - egal, zu welcher Uhrzeit. Auch der erst kürzlich
im Fernsehen ausgestrahlte Lars-Becker-Film erweist sich nicht als faules
Ei im Spielplan. Während im Saal die Besucher den lauen Lenz der Provinzkomödie
genießen, regt sich im Spitzboden der laute Widerstand gegen den
Castor-Transport: ›Das Gelbe vom Ei‹ versus ›Trainstopping‹. Beide Filme
finden ihre Zielgruppe.
Ein sehr bunt gemischtes Publikum kommt abends zu ›Shall we dance?‹.
Der japanische Tanzfilm um einen verheirateten Mann, der sich in seine
Tanzlehrerin verliebt, vereint völlig unterschiedliche Typen: Rastalocke
und Föhnfrisur, Trenchcoat und Lederjacke. Wie an allen Tagen des
Festivals verteilen sich so viele Zuschauer auf die einzelnen Programme
wie schon seit Jahren nicht mehr. Die Jury mischt sich oft unter die Zuschauer.
›Wir haben uns bei der Auszeichnung schwer getan, weil so viele unterschiedliche
Beiträge in direkter Konkurrenz stehen‹, sagt das Jurymitglied Gerd
Gockell (Hannover). Doch die Not macht erfinderisch. Und kurzerhand wurde
etwas Neues eingeführt: die lobende Erwähnung. Der Ludwigsburger
Filmstudent Michael Rösel (Hildesheim) wird für seinen Ideenreichtum
in ›Flexus‹ und ›Black Cat‹ belohnt. Besonders die Schwester der Kettensäge,
die Flex, scheint es den Juroren angetan zu haben.
Preisgeld von 2.100 DM
Die Preisgelder gehen derweil an drei zu gleichen Teilen an die Filme
›Zwischen vier und sechs‹ von Corinna Schnitt (Köln), ›La Mort du
Chanteur de Mexico‹ von Laurent Firode (Paris) und ›Eine Rose aus Afrika‹
von dem Iraner Amir Razi (Rotterdam). Letzterer erzählt sehr zurückhaltend
vom Schicksal eines afrikanischen Waisen, der mit seiner Tante in Holland
um Asyl bittet - vergebens. Gerade als der kleine Rashid sich mit einem
gleichaltrigen Mädchen angefreundet hat, muß er das Land wieder
verlassen. Dieses melancholische, aber nie rührselige Werk beweist,
›daß ein politischer Film nicht per se als Kasteiung des Zuschauers
gestaltet werden muß‹, so die Begründung der Jury.
Emigration
Ebenfalls auf der ständigen Suche nach einem besseren Leben in
einem sicheren Land ist die Hauptfigur in ›Suzie Washington‹, ein Film
außerhalb des Wettbewerbs. Er beschreibt die Odyssee einer Frau aus
Georgien, die sich nichts sehentlicher wünscht, als nach Amerika zu
gelangen. Aber ihre Reise endet abrupt in Wien. Mit ihrer großen
Tasche im Arm irrt sie durch Österreich und nur der Zufall ist auf
ihrer Seite.
Auf seiten des Publikums ist nach fünf Tagen medialer und anderer
hochprozentiger Berauschung die Stimmung noch immer nicht verblaßt
- nur ein bißchen verkatert. Daß die ›15. Tage des unabhängigen
Films‹ im Jahre 2000 es schwer haben werden, diesen Erfolg noch zu toppen,
ist offensichtlich. Doch Wunder gibt es immer wieder. (Kim Kruse in
der Neuen Osnabrücker Zeitung, 1.2.1999)
Man kennt den guten Ruf der von Birgit Hein und Gehard Büttenbender
sowie Karl Heinrich Weghorn und Peter Dargel betreuten Filmklasse;
der muß sich aber Jahr für Jahr erneut bestätigen. Um es
gleich zu sagen: Der Jahrgang ‘98 erfüllte aus meiner Sicht wieder
die Erwartungen.
Bjoern Melhus (NO SUNSHINE) und Constanze Westhoven (LAUTHALS)
hatten 1998 je einen der Förderpreise der niedersächsischen Künstlerförderung
erhalten. Auch bei den übrigen Arbeiten war Stringenz zu spüren,
will sagen, es gab da keine oder keine allzu große Diskrepanz zwischen
dem, was offensichtlich beabsichtigt, und dem, was dann schließlich
auf der Leinwand zu sehen war. Verstecken mußte sich also niemand.
Denkt man dabei an die Jahresproduktionen anderer Filmklassen oder
-hochschulen, dann ist dies schon bemerkenswert, und ich meine, es wird
damit zu tun haben, daß die Filmklasse der HBK einer der wenigen
Orte ist, an denen die Ausbildung noch zweckfrei erfolgt, wo nicht Standards
eingeübt werden, an denen man sich beweisen soll, damit Werbebranche
oder Vorabendserien nicht an Nachwuchsmangel zugrunde gehen.
Zweckfreie Ausbildung heißt: dem einzelnen helfen, sich in seiner
Kunst zu verwirklichen. Infolgedessen sind die Arbeiten, die an Orten wie
der HBK entstehen, keine genormten Visionen, sondern individuelle (wenn
auch nicht frei von Einflüssen, wer würde anderes auch erwarten).
Gleichwohl sind sie einander ähnlich - wenigstens insofern sie Ausdruck
personeller Erfahrungen sind, speziell jener, wie man sie in einem Alter
macht, in dem man naturgemäß noch stark mit sich selbst beschäftigt
ist. Denn von Ausnahmen abgesehen, beschäftigen sich die Filme generell
und explizit mit dem ICH (war dies eine Vorgabe?). Damit endet die Gemeinsamkeit:
die einen nehmen´s ironisch, die anderen mit Erstaunen oder Verwunderung,
andere mit Ratlosigkeit, oder man wirft einen subjektiven Blick auf die
Welt, der zum Beispiel durch eine bestimmte Auswahl der Bilder und deren
Montage bestimmt ist - wie etwa bei Andreas Zech (HYSTERIA) oder
Klaus Weingarten (DENKEN ZWECKLOS), die eine vergleichbare Methode
anwenden: sie montieren Bilder, kurze Einstellungen, Bewegungen, so von
einem, der davonreitet, oder einem Schiff oder einem arbeitenden Pumpwerk
(Zech) oder von Autofahrten an Häuserfronten entlang (Weingarten)
zu rhythmischen Bildfolgen, die sich zumTeil wiederholen und/oder andererseits
einer Materialzersetzung oder -verschmutzung ausgesetzt sind. Hinzu kommt
entsprechender Ton (Geräusch/Sound): da drückt sich denn das
Ich indirekt aus, es simuliert vielleicht einen Trip (oder erinnert sich
an einen), jedenfalls ist in desem Fall der Ich-Bezug vordringlich als
Lebensgefühl präsent.
Bei Iris Selke (DER LEGUAN) vertritt ein Leguan metaphorisch
das Ich. In seinem Terrarium versucht er vergeblich, die Glaswand hochzukrabbeln.
Auch Selkes Film ist eine Bildmontage mit wiederkehrenden Elementen: U-Bahn,
Hotelflur, Aufzug, Rolltreppe in einem Kaufhaus und ähnliches, hier
eher zu einem Traum ohne Anfang und Ende, also zu einem Alptraum verdichtet.
Ist das Ich auch Thema in PASSING CURRENT (von Judith Pfeifer)?
Wenn, dann nur ziemlich verhalten. Der Film: Eine Tanz-Performance in etwa,
deren Choreografie allerdings erst durch den Schnitt entstand. Die Kamera
nimmt verschiedene Positionen wahr, Bewegungen vor allem, und immer wieder
dieselben: eine Frau, die ein Fenster öffnet und schließt: fließend
sind diese Bewegungen an einem Ort ohne Raum, nur eigentlich im Licht,
in den Schatten, Linien, Umrissen. Da scheint das Ich mir mehr ein lyrisches
zu sein (wie in Gedichten).
Bei Susanne Winterling (DRUMS) spielt es im Sinne einer Thematisierung
keine Rolle. Der Film ist das rhythmisch faszinierende Ergebnis einer Montage
aus Groß- und Detailaufnahmen während eines Trabrennens, aufgenommen
vom Sulky aus, auf die Hinterhände des Pferdes gerichtet (zumindest
hatte ich den Eindruck, daß dies so ist), kombiniert mit den im Tempo
sich steigernden Hufschlägen des Pferdes.
Ihr Film RACING ist die burleske Ergänzung: ein ›Kurzfeature‹
von anderthalb Minuten über den Start eines Windhunderennens, stumm.
Jochen Schlöder (JOHN WOO’S ›THE KILLER‹) macht sich und
uns ein Vergnügen, indem er wie aus dem Stegreif die Geschichte eines
Räubers und eines Polizisten erzählt, worin es zahlreiche (natürlich
gewollt) unausgereifte Verwicklungen gibt. Optisch wird die Geschichte
durch animierte Figürchen begleitet. Der Film bezieht seinen komischen
Effekt aus der Trivialisierung einer Trivialgeschichte.
Damit bin ich bei den Erzähl-Filmen angelangt, sofern man bei
dieser Art Filmen von erzählen sprechen kann. Mit Narration hat das
nichts zu tun. Die Filme erzählen von der Person des Filmemachers
/ der Filmemacherin: vom Ich, von einzelnen Aspekten, Gefühlen.
Noch relativ verhalten gestaltet sich die Anwesenheit des Ich bei Bei-Kyoung
Lee in seinen Filmen ANGST und SPANNUNG, die beide durchgehend mit
Doppelbelichtungen arbeiten. Vor einem vorbeiziehenden, meist durch Überbelichtung
flüchtig oder unscharf wirkenden Hintergrund (Wald, Wasser etc.) schiebt
sich blass, nur in Maßen deutlich das Gesicht des Autors oder es
sind Hände zu sehen.
Zwischenschnitte wie in SPANNUNG wirbelnde Schienenstränge hinten
aus dem fahrenden Zug aufgenommen, wirken wie ein Schrei. Die Geräusche
tun ein übriges, den Eindruck des Alptraumhaften zu verstärken.
Anders Anna Gollwitzer (A TRAVELLER STORY - EINE ORDNUNG DER
DINGE), deren Arbeit sich an Foucaults ›Ordnung der Dinge‹ zu orientieren
vorgibt, in Wirklichkeit aber einen Wust disparaten Materials zusammenwürfelt,
was eher einem Chaos gleicht als einer Ordnung. Ich und Chaos sind so -
unausgesprochen - eins, die Identität ist zerstückelt, vielmehr
sie setzt sich aus heillos Unterschiedlichem zusammen - englischen Sprachfetzen,
einem Kurs offenbar für Schauspieler, Musikproben, einer alpenländischen
Ferienlandschaft, Schnipseln, die aus Büchern oder sonstwo ausgeschnitten
wurden, einem Picknick im Grünen, Kirchenglocken, und und und.
Bjoern Melhus (NO SUNSHINE, schon vielerorts besprochen) splittet
sein Ich in vier gleiche geschlechtsneutrale (Klon-)Personen auf, von denen
eine offenbar die Frechheit oder den Mut oder den Zwang hat, sich verändern
zu wollen, was zu seiner Auslöschung führt.
Andrea Otero (DER VERLORENE MOND) sieht sich dabei zu, wie sie
allerlei seltsame Gegenstände gebiert - unter ihrem Rock kriechen
Schmuck, Glasvasen, ein Porzellanpferdchen, Spielzeugautos und manches
mehr hervor, sie nimmt die Gegenstände und stellt sie in ein Regal.
Nachtblau und blutrot sind die vorherrschenden Farben: Mond und Menstruation,
aber der Mond ist nur eine Lampe und das Blut nichts als Spielzeug, offenbar
ist da ein Ich, das sich noch nicht mit seiner Situation abfinden will.
Oder möglicherweise eher: es hat diese Übermystifizierung von
Mond und Menstruation gründlich satt.
Sich nicht mit etwas abfinden-können oder -wollen. Auch für
Constanze Westhoven (LAUTHALS) ist das ein Thema. Womit sie sich
nicht abfinden kann, bleibt freilich (in einem positiven Sinne) unscharf:
ist es die christliche Erziehung, ist es diese Religion, die aus Frauen
Madonnen macht, ihnen aber die Dornenkrone verweigert? Jedenfalls spielen
Dornen eine zentrale Rolle, wie auch Madonnenfiguren, deren Gesichter (Mund-
und Halspartie: lauthals) von unten her mit der Handkamera so intensiv
abgetastet werden, daß man meint, sie begännen zu leben, während
eine andere Kamera das Gesicht der Autorin, die eine Dornenkrone trägt,
in Kontrast dazu nun schräg von oben, ebenfalls abtastet, so daß
sie mehr und mehr einer Statue gleicht, bis ihr schließlich das Blut
in Strömen vom Haupt über das Antlitz rinnt. Mit den Händen
verwischt sie dabei das Blut. Keine Metaphorik, keine greifbare Symbolik,
und dennoch beides, wiewohl gleichzeitig Dokumentation, scheinbar reales
Geschehen, Handlung, alles in einem... Die Musik von Dirk Schaefer verstärkt
Faszination und Befremdlichkeit (eine ganz andere - auch zutreffende -Musik
hat er für Otero kompniert).
Annette Hanisch (SNOWWORLD) stellt sich vor eine Leinwand. Sie
hat eine Blume in der Hand (wie manchmal Heilige eine Lilie). Im Hintergrund,
auf der Leinwand die Szene aus einem Spielfilm (›The Hunger‹): darin kommt
eine Frau eine andere besuchen, die zunächst nur zögernd die
Tür öffnet. Andeutungsweise handelt es sich um eine lesbische
Begegnung. Annette Hanisch versucht nun, sich auf diese oder jene Art in
die Szene hineinzubegeben, der einen, offenbar von ihr begehrten Frau (der,
die zu Besuch kommt: Susan Sarandon) die Blume zu überreichen, was
durch Bildstörung und dergleichen verhindert wird, aber nicht nur
natürlich dadurch: letztendlich ist ihr Bestreben ein Ding der Unmöglichkeit,
auch wenn es zum Schluß so scheint, als küßten sie sich
endlich.
Das war nun wahrhaftig in diesem Programm der einzige Film, in dem
es um eine zwischenmenschliche Beziehung ging, bezeichnenderweise sogar
nur um eine zwischen Mensch und Idol. Das ist schon erstaunlich. Die Welt
der FilmstudentInnen dreht sich nur noch um das eigene Ich und um sonst
nichts mehr? Ich hoffe, die Frage klingt nicht zu moralisch, denn man kann
sich das Programm gut und gerne zwei oder dreimal ansehen, ohne sich zu
langweilen, Im Gegenteil: man entdeckt immer Neues. Und das ist doch was.
(Willi Karow)
MuuMediaFestival in Helsinki:
Videoinstallationen und Internetprojekte
Hier wurden ältere Arbeiten wie z.B. ›emotions encoded‹ von Merel
Mirage und ›Liquid Views‹ von Fleischmann, Strauss und Bohn (D) zusammen
mit der neuen Arbeit ›Agatha Appears‹ der russischen Net-Künstlerin
Olia Lialina (RUS) gezeigt. Darüberhinaus gab es ›Elective Affinity‹
von Sara Roberts (USA), ›Illumination I, On-line, Binary Man‹ von Barbara
Konopka (POL), ›In Conversation‹ von Susan Collins (GB), ›Cyberflesh Girlmonster‹
von Linda Dement (AUS), ›Sovitus‹ von Heidi Tikka (FIN) sowie ›The Adventures
of Blacky‹ des Duos Jeanne C. Finley & Johns H. Muse (USA) zu sehen.
(http://www.espoo.fi/otso/eng/nyt.htm)
Events
Das MuuMediaFestival wurde von einer Reihe gleichzeitig stattfindender
Events begleitet. Eines dieser Projekte war MOBIL ZONES, welches versuchte,
die Auswirkungen der Globalisierung und der neuen Informationstechnologien
auf den Stadtraum darzustellen - so wanderten beispielsweise Eva Hertzsch
und Adam Page mit ihrer ›Sicherheitsschleuse‹ (SECUROPRODS) durch den in
diesen Tagen zumeist strömenden Regen von Helsinki.
Denise Uyehara aus Los Angeles lieferte mit ihrer performance art investigation
›lost and found‹ eine äußerst sensibel gestaltete Arbeit ab:
Gegenstände aus ihrem Besitz waren mit Zetteln versehen in Los Angeles
und Helsinki ›verloren‹ worden, und die jeweiligen Finder konnten sie mit
Bemerkungen zu ihren ›Verlusten‹ an Denise zurückgeben. In einer 1
1/2stündigen und sehr gut dramaturgisierten Performance wurden diese
Objekte in Beziehung zu ihrem eigenen Leben und Erleben gebracht - und
so schwankte die Veranstaltung zwischen sehr intimer Nähe und Aussagen
völlig fremder Personen.
Mit weiteren MOBILE ZONES waren Roderick Buchanan, Susan Collins, Nick
Crowe, Ulla Karttunen und Juha Nenonen vertreten.
Film- und Videoprogramm
Im Film- und Videoprogramm war von Festival-Direktor Pekka Kantonen
ein Schwerpunkt auf die Mexikanische Medienkunst gelegt worden. Ein durchaus
interessanter, hin und wieder aber auch allzusehr ins Ethnologische abgleitender
Programmpunkt. Eingeleitet wurde das von Carlos Martinez Suarez präsentierte
Programm mit einer Performance von Roberto de la Torre, welche sehr unterschiedliche
Meinungen hervorrief.
Weitere Gäste im special-program vor Ort waren: Gianni Toti mit
einer Retrospektive, Mike Jones von Film- und Videoumbrella London mit
›A Short history of Computer Animation‹, Annie Auchere Aquetaz von Imagepassage
Annecy (F) mit ›young frensh Videoartist‹, Marikka Hakola (FIN) mit einer
Werkschau und schließlich wir vom Medienhaus Hannover mit dem speziell
für Helsinki zusammengestellten Programm ›Sound and image‹. Hier waren
viele niedersächsische Medienschaffende vertreten, und es fand eine
tolle Resonanz - ebenso wie unser Tourprogramm ›Eurovideoart-tour 6‹, welches
vom Museum für neue Kunst in Pori, etwa 350 Kilometer westlich von
Helsinki gelegen, eingeladen worden war. Die Präsentation vor dem
mit einem überwiegend weiblichen Publikum gut besuchten Haus war so
erfolgreich, daß weitere folgen sollen.
Kommunikation
In guter Erinnerung wird Pori uns übrigens auch aus einem anderen
Grunde bleiben: bei einem Zug durch die Gemeinde mit dem Kurator Jari-Pekka
Vanhala und Maikki Kantola von Pori-Videoworkshop bekamen wir eine ausführliche
Lehrstunde über die feinen Unterschiede in der finnischen Braukunst...
Während in Pori die Kommunikation so auf Hochtouren lief, wurde
sie in Helsinki leider etwas durch die neue Partnerschaft des 10. MuuMediaFestival
mit dem modernen Kiasma-Kunstmuseum getrübt. Denn in dessen doch etwas
sterilen Gängen und Räumen mit Rauch- und Mantelverbot konnte
kaum eine kommunikative Atmosphäre entstehen - und dabei leben Video-
und Filmkunstfestivals mit ihren vielen nationalen und internationalen
Gästen im Grunde doch vielmehr vom intensiven Dialog als von der Reputation
des Veranstaltungsortes! Dies bitte ich auch andere Festivalveranstalter
zu bedenken!
Nichtsdestotrotz wurde beim 10. MuuMediaFestival in Helsinki ein erstes
trilaterales (französisch-finnisch-deutsches) Treffen von Film- und
Videomachern in Annecy vom 25. April bis zum 2. Mai 1999 verabredet. Partner
sind AV-Arrki Helsinki, Imagepassage Annecy und das Medienhaus Hannover.
(Ekkehard Kähne)