Film & Medienbuero Niedersachsen

· Rundbrief 47 ·
Reiseberichte


Dokumentation URLAUB IN DEN SLUMS:

Ein unvergeßlicher ›Dreh‹-Tag
von Mansour Ghadarkhah

Ich war wegen der Dreharbeiten für den Dokumentarfilm URLAUB IN DEN SLUMS - VON CALI NACH CALCUTTA unterwegs. Der Film sollte die Hilfseinsätze deutscher Mediziner des Komitees ›Ärzte für die Dritte Welt‹ in Elendsvierteln verschiedener Kontinente dokumentieren. 26 Ärzte sind abwechslend in sechswöchigem Turnus im Einsatz, um eine medizinische Grundversorgung in den ärmsten Regionen der Welt zu schaffen. Sie opfern ihren Jahresurlaub dafür und arbeiten unentgeltlich.

Gewalt in den Slums

Unser erstes Reiseziel war Cali, verrufene Drogenmetropole und zweitgrößte Stadt Kolumbiens. In Aguablanca, dem riesigen Elendsgürtel im Südosten der Stadt, leben über 600 000 Menschen auf teilweise trokkengelegtem Sumpfgebiet, das illegal besetzt wurde. Die Polizei läßt sich - geschützt durch kugelsichere Westen - in den Slums ausschließlich bei Tageslicht blicken. Bei Dunkelheit stehen die Elendsgebiete unter Kontrolle von rivalisierenden Banden. Der Staat ist kaum in der Lage, sein Gewaltmonopol auszuüben. Kolumbien hat die höchste unaufgeklärte Mordrate der Welt. Aus Angst vor Rache schweigen die Menschen. In der meistgelesenen Tageszeitung Calis ›El Caleno‹ wird auf der Titelseite tagtäglich über brutale Morde berichtet. Wenn man aber die Menschen im Slum trifft, kann man kaum glauben, daß ein Großteil dieser Leute kriminell ist. Trotz Arbeitslosigkeit und Armut, Mangel an Nahrung und den täglichen Bedarfsgütern geben die Menschen nicht auf. Ihre Offenheit und Fröhlichkeit ist erstaunlich. Ihre Existenz am Rande der Gesellschaft läßt sie zu Überlebenskünstlern werden.

Flüchtlingslager im Urwald

In Cali gibt es natürlich nicht nur Armut. Während der Dreharbeiten lernte ich einen der reichsten Männer aus Cali kennen, den deutschstämmigen Kolumbianer Gerd. Er lud mich und Michael, einen Mitarbeiter des Komitees, zu einem Flug an die Pazifikküste ins Chocogebiet eingeladen. In einer Diashow zeigte er uns vorher das Leben der Indios in einem Flüchtlingslager. Schwarze haben sich in den Gebieten der Indios angesiedelt und sie somit nach und nach verdrängt. Gerd wollte, daß diese Katastrophe von der Weltöffentlichkeit endlich beachtet wird. Deshalb sollte ich ein solches Flüchtlingslager der Indios filmen.

Kokainmafia kontrolliert

Die Gründe für die gravierenden Flüchtlingsströme sind vielschichtig. Kolumbien wird von unterschiedlichen Machtgruppen beherrscht. Außer den Großstädten stehen zwei Drittel des Landes unter der Kontrolle der Kokainmafia und den rechtsgerichteten Paramiltärs sowie den linksgerichteten Guerilleros. Durch Kämpfe der untereinander rivalisierenden Mächte sind eine Million intern Vertriebener in Kolumbien auf der Flucht. Sie werden zum großen Teil von paramilitärischen Gruppen verjagt oder müssen fliehen, um nicht abgeschlachtet zu werden. Es sind oft vom Staat vergessene Kleinbauern, deren Land plötzlich wegen der Bodenschätze wie Erdöl, der enormen Artenvielfalt und der Megaprojekte der teils ausländischen Großinvestoren und Multis interessant wurde.

Flug über den Urwald

Gerd versicherte uns, daß das Flüchtlingslager nicht zu einem von rechtsgerichteten Paramilitärs, linksgerichteten Guerilleros oder der Kokainmafia umkämpften Gebiet gehören würde. Kurz nach Sonnenaufgang starteten wir, ausgerüstet mit meiner kleinen digitalen Kamera und Fotoapparat, vom Flughafen Cali in einem von Gerds Flugzeugen in Richtung Anden. Die kleine Maschine hatte Mühe, die notwendige Höhe zu erreichen. Wir flogen über dichten Urwald und konnten einige Dörfer entdecken, die wie kleine Festungen von undurchdringlichem Dschungel umgeben waren.

Landung mit Hindernissen

Zwei Stunden nach unserem Abflug erreichten wir das Flüchtlingslager, das ich aus der Luft filmte und fotografierte. Vor der Landung mußten wir die Piste, die an der Pazifikküste lag, mehrmals überfliegen, um Unebenheiten und Löcher zu erkennen und eine Bruchlandung zu vermeiden. Flugplätze solcher Art wurden von Angehörigen der Kokainmafia gebaut. Gerd erzählte uns während der Landung, daß diese Start- und Landebahn von Pablo Escobar höchstpersönlich angelegt worden war. Von hier und anderen kleinen Rollfeldern aus wurde in den 80er Jahren tonnenweise Kokain verladen, um es in die USA zu transportieren.
Nach der Landung erschienen nach und nach einige Soldaten mit nackten Oberkörpern. Bereits um 8 Uhr morgens war es sehr schwül.

›No photos‹

Ich nahm sofort meine Kamera und filmte die Soldaten. Zwischen Gerd und den Soldaten entwickelte sich ein Gespräch, an dessen Tonfall und Mimik ich auch ohne Spanischkenntnisse spürte, daß es Schwierigkeiten geben könnte. Ich nahm an, daß wir schlimmstenfalls in unser Flugzeug steigen und zurückfliegen müßten. Als die Soldaten merkten, daß ich drehte, sagten sie: ›No photos‹. Ich nahm kaum Notiz davon und filmte mit meiner Kamera unter dem Arm weiter. Gerd und Michael bemerkten allerdings nichts davon, wie ich später von ihnen erfuhr. Ich hatte die Gefährlichkeit der Lage völlig falsch eingeschätzt.

Kommandant ist Filmexperte

Gerd und Michael, die beide perfekt spanisch sprachen, waren plötzlich auffällig wortkarg. Gerd hatte uns als Mitarbeiter einer humanitären Organisation vorgestellt, und ich nahm immer noch an, wir spazierten in das Flüchtlingslager, und ich könnte einzigartiges Material drehen. Man befahl uns, zu dem Kommandanten zu gehen, der am Ende der Piste in der Nähe des Flüchtlingslagers stand. Mittlerweile kamen immer mehr Soldaten mit Maschinenpistolen und Pumpguns aus dem Busch, und schließlich waren wir von 30 bis 40 Soldaten umringt. Der Kommandant ging einige Schritte auf uns zu. Er war etwa 30 Jahre alt und trug, kaum zu glauben, eine Zahnspange. Ich hielt die Kamera unter dem Arm und filmte weiter. Das bekannte kleine rote Lämpchen jedoch, das aufmerksamen Augen jede Aufnahme verrät, machte dem eine Ende. Der Kommandant wandte sich mir zu und sprach mich spanisch an. Gerd und Michael übersetzten. Ich sollte zurückspulen und zeigen, was ich aufgenommen hatte. Ich spulte fast bis an den Anfang der Kassette zurück, damit die heimlichen Aufnahmen nicht entdeckt wurden. Der Kommandant kannte sich unerwartet gut mit der Kamera aus. Er nahm mir die Kamera aus der Hand, spulte vor und sah natürlich die heimlichen Bilder.

Situation eskaliert

Plötzlich schrie er seinen Soldaten einen Befehl zu, und sie entsicherten ihre großkalibrigen Gewehre. Dieses metallene Geräusch machte mir den Ernst der Lage schlagartig klar. Wir waren in Lebensgefahr. Man befahl uns, sofort zum Flugzeug zurückkehren. Auf dem Weg dorthin schaute sich der Kommandant weiter meine Aufnahmen an. Das Flugzeug wurde von Soldaten durchsucht. Unsere Fotokameras wurden auseinandergenommen und die Filme herausgerissen. Michael und ich wollten protestieren, doch Gerd warnte uns mit leiser Stimme eindringlich, ruhig zu sein. Man könne uns jederzeit erschießen. Dann wurden wir durchsucht und abgetastet. Unsere Pässe wurden eingezogen, die Personalien aufgenommen und per Funk durchgegeben. Wir mußten uns auf den sandigen Boden setzen. Von einem der Soldaten erfuhren wir, daß wir in einem Militärgebiet gelandet waren, das bis vor kurzem von linken Guerilleros (ELN) beherrscht worden war.

Filmmaterial gelöscht

Stundenlang mußten wir in der immer stärker werdenden Hitze ausharren. Gerd hatte uns geraten, so wenig wie möglich zu reden. Wir flüsterten nur noch und überlegten, wie wir die Situation entschärfen könnten. Ich schlug vor, dem Kommandanten Geld zu geben. Gerd meinte, wenn er Geld haben wolle, würde er es zeigen. Vor seinen Soldaten würde es die Situation aber eher verschlechtern. Der Kommandant hatte inzwischen mit geübten Griffen mein Filmmaterial gelöscht. Er blickte uns feindlich und haßerfüllt an. Gerd versuchte, dem Kommandanten die humanitären Ziele des Komitees der Ärzte für die Dritte Welt zu schildern, hatte damit aber keinen Erfolg. Arme Kolumbianer und Slumbewohner waren ihm offensichtlich völlig gleichgültig.

Schwimmen im Pazifik

Überraschenderweise wurde uns wegen der großen Hitze erlaubt, im Pazifik zu baden. Zwei Soldaten begleiteten uns zum Strand. Im Wasser konnten wir dann unbehelligt miteinander reden. Gerd befürchtete, daß wir einige Tage festgehalten werden könnten. Da mein Flug nach Deutschland für den übernächsten Tag gebucht war, ahnte ich Böses. Um die Situation aufzulockern, schlug ich vor, schwimmenderweise nach Panama zu fliehen. Etwas ratlos bewegten wir uns langsam zum Strand zurück, wo die Soldaten uns wieder in Empfang nahmen und uns zum Flugzeug zurück brachten. Dort teilte uns der Kommandant überraschenderweise mit, daß wir zurückfliegen könnten. Wir mußten ein Blatt unterschreiben, daß man uns gut behandelt habe. Dann erhielten wir unsere Pässe zurück.

Der ›Retter‹

Erleichtert stiegen wir ins Flugzeug und machten uns ›aus dem Staube‹. Als wir abhoben schrie Gerd befreit ›Ihr Arschlöcher....‹ Während des Fluges wurden wir mit einem Blick auf wunderschöne Inseln mit glasklarem, blauen Wasser entlohnt und konnten im pazifischen Ozean Wale entdecken. Plötzlich tauchte über uns ein Privatjet auf. Gerd nahm über Funk Kontakt zu dem Piloten auf. Der Jet landete später auch in Cali. Der Pilot der Maschine, ein sehr einflußreicher Mann, hatte über Funk von unserer Verhaftung gehört. Da er Gerds Namen kannte, setzte er sich für uns ein und konnte unsere Freilassung erreichen. Als er uns sah, streckte er den Arm aus und rief: ›Heil Hitler‹. Mein Protest wurde von Gerd im Keim erstickt. Der Mann hatte uns nämlich sozusagen ›den Arsch gerettet‹.


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Osnabrück-Net Letzte Änderung: 31.1.1999