Dokumentarfilmtournee

Bilder in der Wirklichkeit erfolgreich erprobt
   
Deutsche Dokumentarfilme können auch im Ausland erfolgreich sein. "testamento" von Uli Stelzner und Thomas Walther schlägt Zuschauerrekorde in Guatemala, indem er sein Publikum aufsucht.


Die Geschichte Guatemalas - ein "lautloses Asthma"
350 Menschen sitzen in einem Gemeindesaal im Urwaldstädtchen Cantabál, im Norden Guatemalas. Es sind größtenteils Opfer des Terrors der guatemaltekischen Armee, welche zu Beginn der achtziger Jahre diesen Landstrich dem Erdboden gleichmachte. Es ist dunkel im Saal, auf der Leinwand sehen sie schweigend den bewegenden Dokumentarfilm testamento, der anhand der Lebensgeschichte eines engagierten Rechtsanwalts die politisch-historischen Ereignisse Guatemalas seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts bis heute nachzeichnet.
Plötzlich prasselt tropischer Regen auf das Dach, Wellblech löst sich und kappt eine Stromleitung - die Bilder auf der Leinwand erlöschen. Trotzdem verlässt niemand den Saal. Mehr als eine Stunde verharren die Zuschauer geduldig, bis ein Generator organisiert ist und die Bilder weiterlaufen.
Nach der Vorführung bilden sich lange Schlangen vor den Meinungsbüchern: "Dieser Film bedeutet die Wiederaneignung unseres kollektiven Gedächtnisses. Unser sozialer Puls und unser nach Demokratie sehnender Atem ersetzt langsam das lautlose Asthma, dem wir jahrelang unterworfen waren", lautet einer der Kommentare.
Eine von mehr als 30 Filmvorführungen, welche die beiden unabhängigen Mediengruppen ISKA (Berlin) und Luciérnaga (Guatemala) im März und April diesen Jahres unter dem Motto "Geschichte leben" unter nicht einfachen Bedingungen organisierten.

Mit Dokumentarfilm die Geschichte leben
"Ein Bild kann nie die Wirklichkeit sein", sagt Harun Farocki in einem Essay über den Dokumentarfilm und fährt fort: "Es gibt nur die Bilder von der Wirklichkeit. Sich ein Bild machen heißt, seine Bilder von der Wirklichkeit an der Wirklichkeit erproben."
Diese Erkenntnis veranlasste auch die beiden Regisseure dazu, ihren im Januar 2003 fertiggestellten Dokumentarfilm "testamento" an den Ort seiner Entstehung zurückzubringen.
Es ist nicht die erste Erfahrung der Regisseure mit mobilem Kino. Bereits 1998 fand eine Filmtournee "Geschichte leben" mit dem Film "Die Zivilisationsbringer - Deutsche in Guatemala" statt (Gewinner des Eine Welt Filmpreises des XX. Fernsehworkshop Entwicklungspolitik 2001).
Dieser Film verursachte polemische Debatten im ganzen Land, an einigen Orten mussten wegen massiver Drohungen die Vorführungen von der UNO-Mission geschützt werden.
Die im März / April diesen Jahres organisierte Filmtournee "Geschichte leben II" wurde nach anderthalb Jahren Finanzierungssuche von der Heinrich-Böll-Stiftung, der niederländischen Kulturstiftung HIVOS, der staatlichen Universität San Carlos in Guatemala, dem Friedensfonds der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) und dem Dialog-Programm des Deutschen Entwicklungsdienstes DED finanziert. Der Film wurde landesweit an 30 verschiedenen Orten gezeigt. Neben einem Kino in der Hauptstadt waren es v.a. staatliche und private Universitäten, Schulen, Gemeindesäle, öffentliche Plätze, aber auch Flüchtlingslager, Bauerngemeinden und die Große Freimaurer-Loge von Guatemala, wo der Film gezeigt und vor allem diskutiert wurde.

 

Uli Stelzner (links) und Thomas Walther, Regisseure von testamento und Initiatoren der Filmtour "Geschichte leben".
(Fotos: Fux/ISKA)




Der Protagonist des Films, Alfonso Bauer Paiz, nach einer Vorstellung an der Universität Guatemala.




Filmvorführung in Guatemala
Krieg zerstört Kultur
Nach Ende des 36-jährigen Bürgerkrieges Ende der 90-iger Jahre wurden ähnlich wie in Südafrika Wahrheitskommissionen eingesetzt, die neben den Untersuchungen der Gewaltverbrechen u. a. zu dem Schluss kamen, dass die Aufarbeitung der Geschichte wesentlicher Bestandteil des Aufbaus einer demokratischen Zivilgesellschaft sein müsse. Der Dokumentarfilm - geeignetes Mittel der historischen und politischen Auseinandersetzung jeder Gesellschaft - war zu diesem Zeitpunkt nicht existent. Die wenigen Filmemacher waren tot oder ins Exil gegangen. Auch heute gibt es keine Filmförderung oder sonstige Unterstützung für das Medium. Inmitten von Korruption und Wirtschaftskrise herrscht ein unpolitischer Pragmatismus, der sich nicht einmischt und die Geschichte angeblich belanglos macht. Da kommt ein Film über einen bescheidenen 84-jährigen Mann mit Idealen, der bis heute im Parlament aktiv ist, gerade zur rechten Zeit.

Erfolgreichster Dokumentarfilm Guatemalas
Das Verlangen nach eigenen Bildern machte sich an dem großen Zuschauerandrang fest. "testamento" bot mit seinen 18.000 Zuschauern während eines Monats (bei Veröffentlichung dieses Heftes dürften es mehrere zehntausend sein) den Hollywood-Streifen "Gangs of New York" und "Frida" Paroli, die Presse brachte Sonderbeilagen, die Radios verlosten Eintrittskarten und es dürfte damit der erfolgreichste Dokumentarfilm in der Geschichte Guatemalas sein. Aber der Film hatte weitaus Wichtigeres erreicht: er brachte die Menschen zum Weinen, Atmen und Lachen. Er löste Debatten, Einsichten und Hoffnungen aus, brachte die Menschen dazu, über Kriegstraumata zu sprechen und erlaubte es vor allem den jungen Zuschauern, sich ein sehr emotionales Bild ihrer Geschichte und Wirklichkeit zu machen - ein nicht unwesentlicher Beitrag im schwierigen Friedensprozess nach Jahrzehnten der Diktatur.
Trotzdem bleibt ein immer wiederkehrender - und bitterer - Beigeschmack: es sind nach wie vor nur ausländische Filmemacher, die angesichts mangelnden politischen Willens und leerer Kassen in Guatemala derartige Filme machen können. Filmschaffen braucht Geld und Ausbildung, aber auch Vorbilder und Anregung. Deshalb machen Kommentare wie die eines Schülers nach einer Aufführung Mut:
"Der Film fasst all das zusammen, was ich mir immer erträumt habe zu tun. Danke für die Inspiration, wir sehen uns in einer besseren Welt!"
Der Andrang in Guatemala lässt auch auf einen Erfolg in den USA hoffen - bekanntlich ist die Latino-Bevölkerung dort inzwischen die größte Migranten-Gruppe, mit ausgeprägter Identität und eigenen Filmfestivals.

Kinostart von "testamento" in Deutschland ist im November 2003. (Gruppe ISKA)

testamento, 93 min., 35 mm, span. mit dt. UT, Deutschland 2003
Buch und Regie: Uli Stelzner und Thomas Walther
Kamera: Thomas Walther
Ton: Otto Gaytán Silva; Musik: Tito Medina und Paulo Alvarado
Produktion: ISKA e.V.; Verleih: Neue Visionen Filmverleih
Förderung: Hessische Filmförderung, Kulturelle Filmförderung aus Mitteln des NDR in Niedersachsen
Drehbuch entwickelt mit Unterstützung von Jacek Blawut und Andreas Voigt (script 2000, Drehbuchwerkstatt Niedersachsen)

Kontakt: ISKA, Tel. 030/61286089,
iska@ipn.de



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