Interview

Development Programm vor erfolgreichem Abschluss
   
Im sechsmonatigen Development Programm der Drehbuch-Werkstatt Niedersachsen SCRIPT 2000! NON FICTION haben ausgewählte Autorinnen und Autoren die Möglichkeit, bis Ende des Jahres die erste bzw. die zweite Fassung ihres Stoffes unter der Leitung von Andreas Voigt und Jacek Blawut zu schreiben.

Folgende Autoren nehmen am Programm teil:
Dimitra Atiselli (Hannover) mit ›Es geht nichts verloren - Daphnis und Chloè‹. Andreas Buhr (Hannover) mit ›Auf der Suche nach dem ausgebürgerten Tod‹. Silvana Ceschi (Zürich) mit ›Yioda und Salih‹. Ulrike Chekkouri und Janina Dahse (Berlin) mit ›Zucker im Kaffee. Eine Musikerliebe in Schlagzeilen‹. Hakim Elhachoumi (Berlin) mit ›Frauen in Marokko‹. Gerburg Rohde-Dahl (Horstedt) mit ›Sprung ins neue Jahrhundert‹. Meret Rudolf (Zürich) mit ›Was wäre wenn‹. Uli Stelzner (Berlin) mit ›Poncho - ein Anwalt Amerikas‹. Katrin Stelzner (Hamburg) mit ›Wenn das Licht ausgeht‹. Jörg Streese (Bremen) mit ›Ich, Henrik. 23 Episoden über Blau‹. Kirsten Winter (Hannover) mit ›Upside Down‹.

Vor der letzten Session, die Anfang Dezember stattfindet, führte Dorota M. Paciarelli, Leiterin der Drehbuch-Werkstatt Niedersachsen, mit den beiden Mentoren Andreas Voigt und Jacek Blawut die nachfolgenden Interviews für die Rundbrief-Leser.

Interview mit Jacek Blawut
Interview mit Andreas Voigt


Ich halte meine Emotionen zurück
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Interview mit Jacek Blawut von Dorota M. Paciarelli

Dorota Paciarelli: Die zweite Edition des Development Programms für nicht fiktionale Stoffe unter Deiner und Andreas Voigts Leitung nähert sich nun dem Ende zu. Die wichtigsten Erfahrungen?

Jacek Blawut: Intensive Zeit, spannende menschliche Begegnungen, manchmal das Gefühl, dass die eigene Erfahrung schwer vermittelbar ist und trotzdem helfen kann. Viele Reisen im Zug, die Entdeckung eines kleinen Bahnhofs in einem Kaff in Polen als die nächste Kulisse meines Films und dass das deutsche Bier wirklich gut ist.

D.P.: Grob könnte man die Künstler, Schriftsteller, Filmemacher, Maler, etc. in zwei große Gruppen aufteilen: diejenigen, die sich durch Vorliebe zum Risiko auszeichnen und diejenigen, die den einmal gewählten Weg gehen wollen, auf dem sie manchmal die Vollkommenheit erreichen. Was liegt Dir näher?

J.B.: Beide Wege sind mir nahe. Wenn wir das Risiko nicht wagen, werden wir stehen bleiben. Die Erfahrung stellt eine große, nicht zu unterschätzende Kraft dar. Sie ist rücksichtslos zu nutzen. An die Vollkommenheit glaube ich persönlich nicht. Aber man soll immer wieder versuchen, sich ihr zu nähern. Das gibt einen guten Antrieb.

D.P.: Wann sollte ein Dokumentarfilmemacher auf keinen Fall etwas riskieren? Beim Schreiben, während des Drehens?

J.B.: Das Papier ist geduldig. Während der Dreharbeiten ist die Risikobereitschaft erwünscht, vorausgesetzt, dass es nicht auf Kosten des Filmhelden geht. Da rate ich jedem ab.

D.P.: Gibt es im Kunstbereich Kriterien, nach denen etwas Kunst ist und etwas nicht?

J.B.: Kriterien in der Kunst? Die gibt es nicht. Wenn schon jemanden oder etwas bestimmten Kriterien unterwerfen, dann die Entscheider. Diejenigen, die entscheiden, dass wir etwas sehen und etwas nicht sehen dürfen. Dass ein Film produziert und der andere nicht produziert wird. Dass etwas gefördert und etwas abgelehnt wird. Die Sensibilität soll entscheidend sein und nicht die Einschaltquote.

D.P.: Als Du die zur Entwicklung in die Drehbuch-Werkstatt eingereichten Stoffe gelesen hast, welche Fragen hast Du den Stoffen ›gestellt‹? War es etwa die Originalität der erzählten Geschichte? Was ist das: eine originelle Geschichte?

J.B.: Bei der Auswahl habe ich mich vor allem gefragt, ob das Projekt ein Thema anbietet, das mich bewegt, fasziniert, meine Fantasie in Bewegung setzt. Darin besteht auch die Originalität: Themen anzufassen und sie so zu zeigen, dass sie mich faszinieren und mich berühren. Dann beginnt das Ganze zu glühen. Diese innere Glut überträgt sich später auf die Leinwand.

D.P.: Wie soll man heute im Dokumentarfilm erzählen? Jede Zeit hat ihren eigenen Rhythmus und jeder Regisseur sucht nach seinem Stil oder umgekehrt - er meidet jegliche Stilisierung. Siehst Du im heutigen Kino Trends, Moden, faszinierende Sichtweisen oder eine neue Filmsprache, vielleicht einen spannenden Blickwinkel auf die Menschen oder beobachtete Wirklichkeit? Was hältst Du von der Faszinierung, die die ›Dogma‹-Filme auf uns ausüben?

J.B.: Für mich gibt es keine Regel in der Kunst. Es gibt Leidenschaft und Menschen, die von der Leidenschaft getrieben werden. Die Italiener haben ein schönes Wort dafür ›La passione‹. Darauf kommt es an und nicht auf ein paar Regeln. Man muß sie kennen, sicher, aber entscheidend bleibt die innere Leidenschaft. Technisch? Die neuen digitalen Kameras stellen sicherlich eine große Chance dar, den Traum vom eigenen Film zu realisieren, aber auch dieser Traum soll solide Grundlagen haben: Talent, harte Arbeit und ein professionelles Handwerk. Sonst könnte ›Dogma‹ bald mit der Freiheit für Stümper und dem Mangel an gewisser Demut assoziiert oder verwechselt werden. Die Filme aus der ›Dogma‹ Reihe finde ich nicht sehr aufregend. Die Auflehnung gegen die Prinzipien in der Kunst war schon immer selbstverständlich gewesen, es gab und es gibt immer Autoren und Künstler, die auf einer gewissen Etappe ihres Schaffens gegen den Strom gehen. Einige von ihnen kenne ich persönlich. Im Gegensatz zu ›Dogma‹-Regisseuren haben sie kein Manifest veröffentlicht. Das ist der größte Unterschied, den ich persönlich ausmachen kann.

 

Jacek Blawut, Mentor der Dokufilmgruppe. 3. Session Wolfenbüttel.
Foto: Paciarelli





›Was weiter? Wir arbeiten dran...‹ Dorota Paciarelli, 3. Session Wolfenbüttel.
Foto: J. Blawut





The producer is watching you... Thomas Kufus, Zero Filmproduktion, in der 3. Session Wolfenbüttel.





Hannover macht Pause... Andreas Buhr und Dimitra Atiselli in der 3. Session Wolfenbüttel.





Kirsten Winter hat gut lachen... 3. Session Doku Wolfenbüttel. Fotos: D. Paciarelli

D.P.: Hartnäckig behauptest Du, dass Du nicht gern ins Kino gehst, weil Du Dich vom Kino ›beleidigt‹ fühlst. Kannst Du das näher erläutern?

J.B.: Ich fühle mich von der Dummheit und Plattheit, die mir von der Kinoleinwand entgegenkommt, in der Tat zunehmend gekränkt. Das soll nicht heißen, dass ich meine Filme so toll finde. Es stimmt schon, dass ich nicht viele Kinofilme sehe, aber das hat einen ganz konkreten Grund, den ich Dir jetzt verrate, damit Du es in Deutschland weiter erzählen kannst. Die Wahrheit ist, dass ich mich fürchte, dass meine Ideen sich womöglich als gar nicht so genial herausstellen könnten. Ich habe womöglich Angst, dass ich im Kino Dinge zu sehen bekomme, die schon jemand vor mir ›entdeckt‹ hat. Und da ich meine Energie nicht verlieren will, weil ich sie ja für meine eigenen Filme brauche, mache ich einen großen Bogen um die Kinos. Irgendwann habe ich in Polen gesagt: ›Das Kino hat mich beleidigt, also meide ich ab jetzt das Kino.‹ Aber es war nur die halbe Wahrheit. Wenn ich die Emotionen in mir zurückhalte, kann ich mit einer größeren Zuversicht eigene Geschichten erzählen. Weil ich ja immer noch hoffe, dass der fertige Film mir etwas erzählen wird, was viel schöner, klüger, geheimnisvoller ist als ich es mir vor dem Drehbeginn gedacht habe. Ich gehe aus Selbstschutz nicht ins Kino. Ich brauche diese hohe innere Temperatur in mir, wenn ich an meinen eigenen Projekten arbeite und das tue ich ja fast ständig. Da bleibt wenig Zeit fürs Kino. Vor ein paar Jahren ging ich noch öfter, aber dann wurde ich richtig sauer und erteilte mir selbst Kinoverbot.

D.P.: Du bist von Beruf Kameramann. Empfindest Du diesen Beruf als Deinen Hauptberuf oder siehst Du Dich eher als Dokumentarfilmemacher? Du wechselst auch Mal gern die Fronten und wanderst hin und wieder zum Spielfilm ab - als Regisseur. Warum? Weil Dich der Dokumentarfilm bei bestimmten Geschichten einschränkt oder weil Dich die Arbeit mit den Schauspielern lockt?

J.B.: Ich sehe mich nicht hauptsächlich als Kameramann. Wenn ich noch als Kameramann arbeite, dann nur deshalb, weil ich eine Atempause brauche, weil mich befreundete Filmregisseure um die Zusammenarbeit bitten oder - ganz banal - weil ich das Geld brauche. Ich sehe meine Arbeit als Dokumentarfilmemacher übrigens gar nicht als Beruf, Arbeit oder - wie man jetzt sagt - Job an. Er war schon immer ein fester Bestandteil meines Lebens. Denn: Was kann es schon Schöneres geben als Menschen kennen zu lernen? Das kann man noch am besten im Dokumentarfilm erreichen, nicht im Spielfilm. Die Fiktion langweilt mich. Wenn ich mich dafür entscheide, Spielfilm zu realisieren, dann deshalb, weil ich dort für mich einen Platz entdeckt habe. Eine fiktive, erfundene Geschichte ist nur ein Vorwand über etwas wirklich Schönes zu erzählen. Über etwas Außergewöhnliches. Der Dokumentarfilm hat eine sehr harte Schale und hat begrenzte Möglichkeiten, wenn man über Gefühle erzählen will. Deshalb gehe ich für eine Weile fremd und begehe sozusagen einen Verrat gegenüber dem Dokumentarfilm. Ich kann nur hoffen, dass er mir das nicht übel nimmt. Ich hoffe auch, dass ich nie zur Einsicht komme, ich hätte es viel früher machen sollen.

D.P.: Wie sieht Deiner Meinung nach die ideale Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur und dem Kameramann aus? Du hast u.a. mit Krzysztof Kieslowski gearbeitet, viele Regisseure bieten Dir Filme an. Nur mit wenigen arbeitest Du zusammen. Was hast Du von den Filmregisseuren gelernt? Welche Fehler auf der Seite der Spielfilmregisseure rächen sich im Film? Soll der Kameramann eingreifen, wenn er merkt, dass der Regisseur es ›nicht packt‹ und die Inszenierung zusammenbricht?

J.B.: Eine ideale Zusammenarbeit am Set mit dem Regisseur läuft wortlos ab. Von einigen Filmregisseuren habe ich viel gelernt. Marek Koterski hat mir gezeigt, wie wichtig die literarische Form des Drehbuchs ist, die Melodie der Dialoge, der Text. Dass die Pause, das Schweigen an der richtigen Stelle mehr wiegt als hunderte von Worten. Krzysztof Kieslowski - das war die ungeheure Konzentrationsfähigkeit und das Gefühl der Freiheit, wenn man mit ihm zusammen war. Feliks Falk hat einen außergewöhnlichen Blick für Details. Sein Blick für Requisite zum Beispiel, die man manchmal gar nicht im Bild sieht, ist einmalig. Diese Besessenheit von Requisiten überträgt sich dann auf die Leinwand, auf den Ort, auf die Schauspieler, auf mich und plötzlich bekommt die Szene ein Eigenleben. Von einem Regisseur erwarte ich vor allem, dass er mit mir lange vor Drehbeginn die Konzeption und die Strategie ausdiskutiert. Dass wir uns auch innerlich gut verstehen. Während der eigentlichen Dreharbeiten soll sich der Kameramann mit dem Regisseur nur dann unterhalten, wenn die Situation äußerst gefährlich wird. Jeder hat wirklich genug im eigenen ›Revier‹ zu tun, da braucht man doch keine großen Worte. Wenn ich höre: ›Der Film ist schlecht, aber die Kamera ist wunderbar‹, dann empfinde ich das als Niederlage des Regisseurs als auch des Kameramanns. Der Kameramann muss so arbeiten, dass der Regisseur ungestört bleibt und sich auf den Kern seiner Arbeit: die Schauspieler konzentrieren kann.

D.P.: Gibt es Kameramänner, die Dich in Deiner Arbeit besonders stark beeinflußt haben? Gibt es Themen, die Dich besonders stark faszinieren?

J.B.: Ich habe diesen Beruf nie als mein Hauptziel empfunden. Mich hat es immer schon mehr interessiert, wie das Unmögliche zum Möglichen wird als die rücksichtslose Suche danach, wie sich eine ästhetische Idee verwirklichen läßt. Ich habe mehr Freude in diesem Beruf, wenn ich das Gefühl habe, ich habe alles gegeben. Ich bin ein Gebertyp, das Nehmen interessiert mich nicht. Das Wichtigste für mich ist stets die Inszenierung und der Schauspieler. Diesen beiden Elementen - und nicht der ästhetischen Idee - unterwerfe ich dann alles andere. Auch mich und meine Kameraarbeit. Hier liegt auch der Schlüssel zum Erfolg. Im Geben und Unterwerfen: die Inszenierung plus die Schauspieler.

D.P.: Im nächsten Jahr soll die Nord Media, eine Film- und Mediengesellschaft der Länder Niedersachsen und Bremen, die Arbeit aufnehmen. Die Drehbuch-Werkstatt wird wahrscheinlich ihre Arbeit in der bisherigen oder anderen Form fortsetzen können. Das erste Signal: die Bewilligung der Projektanträge auf neue Fortbildungsprogramme durch die NDR-Filmförderung in Niedersachsen, darunter im Dokumentarfilmbereich, stimmt optimistisch. Würdest Du etwas in der bisherigen Arbeit mit Andreas Voigt gern verändern?

J.B.: Bestimmt sollten mehr praktische Übungen eingeführt werden. In diesem Jahr kamen sie nicht zustande, weil die Autoren lieber an Projekten arbeiteten und das haben wir akzeptieren müssen, obwohl wir bestimmte Themen und bestimmte Aufgaben im Kopf hatten. Andreas Voigt und ich gehören zu den Filmemachern, die über große Erfahrung verfügen und noch ›frisch‹ genug sind, uns verführen zu lassen von neuen Ideen. Manchmal sind wir sehr hartnäckig gewesen. Scheinbar, denn: ein Projekt auf dem Papier kann zwar einen fantastischen Eindruck vermitteln, doch wenn dahinter keine konkrete Umsetzungsidee steht, wird es kritisch. Es reicht eben noch lange nicht aus, die Kamera am Punkt X aufzustellen und den Knopf zu drücken. Das dritte Auge zu entdecken und das innere Ohr: Daran würden wir beide hier gern weiter arbeiten. An der Sensibilisierung gegenüber Bild und Kamerabreit. An dem Blick, den man für das Thema hat.

D.P.: Du arbeitest auch als Filmlehrer in Polen. Vor kurzem hast Du von 25 Studenten nur 3 weiter gehen lassen. Alle anderen sind in Deiner Prüfung durchgefallen. Glaubst Du, dass diese Strenge heute noch Sinn ergibt? Heute kann doch jeder die DV-Kamera in die Hand nehmen und einen mehr oder weniger gelungenen Film drehen. Lohnt es sich überhaupt noch zu lehren? Haben solche Dokumentarfilm-Dinosaurier wie Du diesen jungen Leuten überhaupt noch etwas zu sagen?

J.B.: Ach, was! Seit ich sie durchfallen ließ, lieben sie mich über Alles! Sie hatten es nötig, ernst genommen zu werden. Was sollen die Professoren, die einem auf die Schulter klopfen und obwohl sie den Film Scheiße finden, sagen: ›Das hast Du aber schön gemacht. Viel Arbeit reingesteckt. Dich richtig bemüht‹. Das bringt doch nichts. Das ist ein Betrug am Menschen. Und was Deine Bemerkung über alte Dinosaurier angeht, möchte ich sagen, dass wir uns noch nicht bedroht fühlen. Zumindest solange wir nicht zu den Routiniers verkommen, soll man uns am Leben lassen. Bei Anzeichen von Routine soll man uns einen Gnadenschuss geben und in die verdiente Rente schicken oder Naturfilme machen lassen. Das ist mein Traum. Wenn ich alt werde, werde ich Filme über Tiere drehen. Im Gras liegen und stundenlang Grashüpfer beobachten. Mit ein paar Freunden, versteht sich.

D.P.: Im März des nächsten Jahres beginnen die Dreharbeiten zu Deinem neuen Spielfilm. Nach dem Riesenerfolg von ›Unnormalen‹, deinem ersten Spielfilm über eine Gruppe von geistig behinderten Kindern und ihrem Lehrer, kann es wohl gewisse Erwartungen und einen gewissen Druck in Bezug auf einen vergleichbaren Kassenerfolg geben. Wie ist es eigentlich: Konzentrierst Du Dich vor dem Drehbeginn auf dein Drehbuch und versuchst Du, eine Art ›innere Stille‹ und Zuversicht aufzubauen, oder hoffst Du eher auf jenen magischen Augenblick, wo plötzlich alles stimmt - das Schauspiel, das Licht, der Ort, die Atmosphäre?

J.B.: Seit drei Jahren durchlebe ich eine Phase von ständigem Auf und Ab, Hoch und Runter, Hoffnung und Kahlschlag, Freude und Niedergeschlagenheit. Den Drehbeginn hatte man mehrmals verschoben, weil die Finanzierung fehlte. In meinem neuen Film spielen Schauspieler, die 80 bis 92 Jahre alt sind. Vor einem Monat ist ein Darsteller gestorben, der für die Rolle, die ich für ihn geschrieben habe, der einzig richtige war. Ich habe ganz einfach die Angst, dass dieser Film - sollte wieder etwas dazwischen kommen - nicht entstehen wird. Die Handlung spielt in einem Altersheim für ehemalige Schauspieler. Die Liebe, die sich in dieses Haus einschleicht, löst in den alten Leuten ungeahnte Kräfte aus und lässt sie Dinge tun, die sie für unmöglich hielten.

D.P.: Gibt es eine ›Message‹, die Du den an von Dir betreuten Autoren mit auf den Weg geben möchtest?

J.B.: Vielleicht dies: Sucht nach Themen, die Euch nahe sind, die um Euch herum vorhanden sind, die nur einen Ellenbogen von Euch entfernt sind. Sucht die Nähe.

D.P.: Hat es Dir in Niedersachsen gefallen? Würdest Du hier gern wieder kommen, um uns an Deinen Erfahrungen teilnehmen zu lassen?

J.B.: Es hat mir hier gut gefallen. Ich habe nicht gedacht, dass Niedersachsen so viele schöne Schauplätze hat. Manchmal dachte ich: ›So schön, warum sehe ich es eigentlich nicht in den deutschen Filmen?‹ Manche Locations haben mich inspiriert. Zum Beispiel eine Villa, die ich in Bad Bevensen gesehen habe. Und eine kleine Gasse in Wolfenbüttel. Die kreative Arbeit lief oft über das ›Lernprogramm‹ hinaus. Das hat diesen Begegnungen einen zusätzlichen Charme gegeben, eine menschliche Seite. Alle waren so engagiert: Autoren, Redakteure, Produzenten, die Organisation... Ich sehe, es hatte wohl Sinn, hier her zu kommen. Die Frage lautet jetzt: ›Was weiter? Was tun, damit mindestens ein Teil der entwickelten Projekte realisiert wird?‹

D.P.: Bei ähnlichen Fragen pflegt man zur Zeit zu antworten: Wir arbeiten dran.

J.B.: Dann bin ich beruhigt. Trotzdem werde ich alle paar Monate nachfragen: Wie steht es um die Projekte?

D.P.: Ich hoffe, ich werde dann nicht mehr sagen müssen: Wir arbeiten dran.


Gegen die Manipulation
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Interview mit Andreas Voigt von Dorota M. Paciarelli

Dorota M. Paciarelli: Zum zweiten Mal hast Du gemeinsam mit Jacek Blawut bei der Drehbuch-Werkstatt Niedersachsen die Entwicklung von Dokumentarfilmprojekten betreut. Deine wichtigsten Erfahrungen?

Andreas Voigt: Bei solchen intensiven Projekten reizt mich vor allem die Begegnung mit jüngeren Kollegen. Mich interessiert, wie sie die Wirklichkeit betrachten, Menschen wahrnehmen, welche Art von Filmen wollen sie machen und warum? Wenn ich Autoren treffe und an ihren Projekten arbeite, erfahre ich ja auch für mich etwas Neues. Oft berührt mich, wie sie die Wahrheit, ihre Wahrheit über das Sujet herausfinden. Solche intensiven Programme sind heutzutage kostbar geworden. Wenn wir an eigenen Projekten arbeiten, sind wir meistens allein. Dass die Drehbuch-Werkstatt Niedersachsen etwas gegen die Isoliertheit des Autors unternimmt indem sie ihm die Möglichkeit gibt, sieben Monate lang ruhig und fern vom Produktionsdruck zu arbeiten, das ist für mich eine positive Erfahrung gewesen.

D.P.: Oft wurde von Autoren, eingeladenen Redakteuren und Produzenten die Frage nach den ›Kriterien eines wirklich guten Dokumentarfilms‹ gestellt. Wodurch zeichnet sich ein guter Dokumentarfilm eigentlich durch? Wie muss er geschaffen sein, damit wir, die wir in der sogenannten ›beschleunigten Gesellschaft‹ leben und tagtäglich durch das Fernsehen mit Dokumentationen, News und Bildern überflutet werden, nicht um- oder gar abschalten?

A.V.: Jeder hat wohl seine eigene Definition des guten Dokumentarfilms. Für mich ist das ein Film, der in der Lage ist, mich stark zu berühren. Er muss eine Geschichte erzählen, die mich angeht, egal wo sie auch herkommen mag. Es gibt ja heute nicht viel wirklich Neues zu erzählen. Von naturwissenschaftlichen Themen vielleicht abgesehen.

D.P.: Interessant. Vielleicht sind es im Spielfilm immer dieselben Geschichten, aber im Dokumentarfilm ist doch das Spektrum viel breiter, vielleicht sogar unendlich.

A.V.: Nein, der Dokumentarfilm hat auch nur einige Geschichten, einige wiederkehrende Themen zu bieten. Das Leben besteht ja, zumal ab einem bestimmten Alter, aus Wiederholungen. Bis wir es herausgefunden haben, vergeht etwas Zeit. Und dann muss man sich mit dieser Erkenntnis auch anfreunden, sie annehmen. Erst später beginnst du, die Erlebnisse neu zu ordnen, sie zu variieren. Ziemlich schnell kommt man dann zur Erkenntnis, dass es im Leben im Grunde genommen immer wieder um dasselbe geht: um Träume, Liebe, Hoffnung, Trauer, Einsamkeit, Macht, um das Geboren-Worden-Sein und um das Sterben. Zwischen diesen zwei Polen liegt dann das ganze kleine Menschenleben. Meines, Deines, das meiner und deiner Freunde, das Leben aller Menschen. Und davon erzählt doch der Film immer wieder. Gestern und heute. Ich mache hier keinen Unterschied zwischen dem Dokumentarfilm und Spielfilm.

D.P.: Wenn es doch immer wieder dieselben Geschichten sind - wie geht man dann in der Massenproduktion nicht unter?

A.V.: Mit Ratschlägen tue ich mich persönlich schwer. Jeder Dokumentarfilmautor muss es wohl für sich selbst herausfinden. Sicher ist eins: Wenn du anfängst, dich zu verbiegen und Dinge tust gegen dein eigenes Ich, so bleibt es nie folgenlos. Die Frage ist also: Bist du auch bereit die Folgen zu tragen? Ganz allein, für dich, ohne jemanden anderen dafür später verantwortlich zu machen. Sicherlich, wenn du dir diese Fragen erst gar nicht stellst, lebst du ruhiger.

D.P.: Ich wundere ich mich über Deine und Jacek Blawuts verblüffend ähnliche Kompromisslosigkeit im Bezug auf die Haltung zum Beruf. Und zum Leben, denke ich.

A.V.: Alles andere wäre doch Selbstbetrug. Ich glaube nicht an Rezepte - weder für das glückliche Leben noch für die ›richtige‹ Filmkunst.

D.P.: Lass uns über die Projekte sprechen, die in diesem Jahr in der Drehbuch-Werkstatt entwickelt wurden. Oft haben die Autoren und Autorinnen Themen gewählt, deren Wurzel in anderen geographischen Regionen liegen: Südamerika, Zypern, Israel und Australien mögen als Kulisse dienen, in denen ganz konkrete menschliche und universelle Konflikte beobachtet werden. Die Frage drängt sich auf: Interessieren sich die Autoren nicht für aktuelle Themen, Protagonisten und Konflikte in Deutschland?

A.V.: Nein, den Eindruck hatte ich in den beiden Jahren nicht. Bei den konkreten Projekten, die Du angesprochen hast, geht es doch immer um die Menschen. Oft hat das Thema einen indirekten Bezug zu Deutschland. Oder es sind Konflikte, mit denen wir auch hier - wenn auch in einer veränderten Form - konfrontiert werden. Das Phänomen, das Du beschreibst, hat meines Erachtens eher mit dem verstärkten Reisen zu tun. Wenn Du unterwegs bist und der Dokumentarfilm ist nichts anderes als eben ›unterwegs sein‹, dann begegnest Du spannenden Geschichten, Menschen und Konflikten. Die Konflikte und die vielfältigen Spannungen bestimmen unser Leben. Jeden Tag. Oder fast jeden. Ein Film ohne Konflikt und eine Geschichte ohne Spannung wäre langweilig, ebenso das Leben. Wenn Du unterwegs bist, erlebst Du Konflikte und Spannungen oft stärker als Zuhause, sie passieren Dir halt öfter, schneller, sind sichtbarer, berühren unmittelbar, egal wo Du bist - ob in Australien, Israel oder auf Zypern. Die andere Frage lautet: wo oder wie tief liegen diese Konflikte? Und gelingt es Dir als Dokumentarfilmemacher, diesen Konflikt auch sichtbar zu machen, ihn so herauszuholen, dass andere ihn als starken Konflikt empfinden können?

 
Andreas Voigt
Fotos: D. Paciarelli




3. Session Wolfenbüttel. Ulrike Chekkouri, Gerburg Rhode-Dahl und Uli Stelzner.




Gemeinsam ist man stärker: eine Pausendiskussion. Stelzner, Rhode-Dahl, Stender und Ceschi.




Skeptische Blicke, ein Projekt wird gerade von Ulrike Becker, SWR, analysiert... Kirsten Winter und Hakim Elhachoumi.




Werner Dütsch, WDR, im Gespräch mit Autoren. Hinter ihm Silvana Ceschi. 3. Session Doku.




Die Schweiz berät sich vor dem Pitch: Meret Rudolf + Silvana Ceschi.




Lesen, immer wieder lesen... Andreas Voigt, Mentor, und Janina Dahse.
Fotos: D. Paciarelli

D.P.: Es ist kein Vorwurf sondern die Frage, ob man so weit reisen muss, um jenen Konflikten zu begegnen. Abgesehen davon, ist es nicht gerade einfach, die Redaktionen und Produzenten für andere geographische Gegenden und fremde Menschen zu begeistern.

A.V.: Es kommt darauf an, ob es Dir als Dokumentarfilmemacher gelingt, diesen Konflikt aufleben zu lassen. Vor den Augen der Zuschauer. Die Frage lautet also: Sind die angesprochenen Konflikte sichtbar, liegen sie auf der Oberfläche sozusagen oder sind sie vielleicht so tief verborgen, ganz tief drinnen im einzelnen Menschen, dass man anfängt zu zweifeln, ob man es als Autor schafft, sie herauszuholen? Schließlich kannst Du im Dokumentarfilm nicht auf Schauspieler zurückgreifen. Es sind immer konkrete Menschen. Echte Menschen, echte Gefühle, echte Probleme, oft sehr tiefe und echte Verletzungen, in denen Du ›wühlen‹ musst. In der so genannten ›modernen Gesellschaft‹, und Deutschland ist eine hochmoderne, technisierte und bürokratisierte Gesellschaft, hier liegen diese Konflikte tief bis sehr unter der Oberfläche. Man muss also sehr tief graben. Die modernen Menschen schützen ihr eigenes Ich sehr stark: vor Verletzungen, vor dem Eindringen der Öffentlichkeit in das Private, vor der Gefahr, zur Schau gestellt zu werden, was ja in den Medien immer wieder passiert. Die Reizschwelle wird also hier immer höher. Immer schwieriger lassen wir Dinge von außen an uns heran. Beim Reisen ist das einfacher. In anderen Ländern unterwegs zu sein und in anderen Kulturen zu leben, fällt vielen zunehmend leichter. Deutschland ist auf dem Weg, eine sehr geschlossene Gesellschaft zu werden. Und weil das so ist, hat der Dokumentarfilm es immer schwieriger bewegende Geschichten von Deutschland zu erzählen. Denn oberflächlich betrachtet gibt es hier ja kaum Konflikte mehr. Alles wird gemanagt, irgendwie wird alles gelöst, alles scheint recycelt zu sein. Die Dinge sind nicht mehr so sichtbar. Sie sind natürlich da, aber wollen wir sie überhaupt noch sehen? Sie könnten uns ja erschrecken, sie könnten uns - die moderne Gesellschaft - beunruhigen. Will man das überhaupt noch?

D.P.: Hin und wieder schon, aber es soll nicht so sehr erschrecken, dass wir dann gleich unsere Gesellschaft selbst in Frage stellen. Es ist zunehmend riskant geworden, den Eindruck habe ich auch, aber gehört das Risiko nicht zum Beruf des Dokumentarfilmemachers? Die eine Fraktion sagt, man soll es wagen, Themen und Sichtweisen zu zeigen, die beunruhigen, sogar dem Publikum missfallen, weil diese ›Schocktherapie‹ uns hilft, zu begreifen, wie komplex das Leben ist. Und weil dann manchmal ein Wunder geschieht und plötzlich sehen wir den Film, als ob ein Leben wäre: so nah, so greifbar, so bewegend. Ich höre oft: Dokumentarfilmemacher müssen auf Überraschungen, besonders am Set, gefasst sein, mehr sehen als man vielleicht mit dem bloßen Auge sieht oder als man es auf dem Papier aufgeschrieben hat. Wie kommst Du mit den Überraschungen, Wendungen, ja Niederlagen während des Drehs oder vielleicht nach der Premiere zurecht?

A.V.: Das ist eine schwierige Frage. Niederlagen nach der Premiere habe ich glücklicherweise noch nicht erlebt, aber die Gefahr gibt es natürlich immer. Bis jetzt habe ich viele Risiken, die mit dem Filmemachen zusammenhängen, gern auf mich genommen. Und es war jedes Mal spannend, lustvoll, auch unter den schwierigsten Bedingungen war es schön, den Film machen zu können. Sollte ich dieses Gefühl eines Tages nicht mehr haben, sollte ich keine Herausforderung dieser Art mehr brauchen, dann ist entweder das Leben zu Ende oder ich muss was anderes machen. Das Risiko, die Gefahr zu scheitern, daneben zu erzählen - all das ist in diesen Beruf eingraviert. Ich bin grundsätzlich für das Risiko, weil ich dann auch etwas über mich herausfinden kann. Sonst kann ich doch gleich zu Hause bleiben.

D.P.: Eigentlich ziele ich mit dieser Frage auf etwas anderes. Auf die Magie im Kino. Hast Du während Deiner Arbeit solche ›magischen Momente‹ gespürt? Die Kehrseite meiner Frage könnte man auch anders formulieren: wie wehrt man sich gegen das Abstumpfen?

A.V.: Natürlich gibt es magische Momente im Kino. Ich habe vor ein paar Tagen in Singapore, wo ich mit jungen Studenten von der Filmhochschule gerade einen Dok.filmworkshop mache, einen neuen Film von Wong Kar Wai gesehen. Der Film heißt ›In the Mood For Love‹ und es ist ein Spielfilm. Ein wunderbarer, sehr intimer Liebesfilm. ›Intim‹ nicht in dem Sinne, dass es viel Nacktheit zu sehen gibt, sondern viel zu spüren, zu fühlen. Mit nur sehr wenigen, dafür aber sehr intensiven Bildern, die mich im Bauch und Kopf getroffen haben, wird eine Geschichte von einer Frau und einem Mann erzählt. Die Magie ist selten, aber es gibt sie. Ihr Erscheinen allerdings setzt offenbar voraus, dass man als Zuschauer das Magische zulassen will, dass man bereit ist die Geschichte zu erleben, sie auf sich völlig offen wirken zu lassen.

D.P.: Das ist interessant, dass Dich ein Spielfilm so bewegt hat. In einer der letzten Szenen Deines Tryptichons über die Zeit vor, während und nach der Wende in Deutschland ›Glaube, Liebe, Hoffnung‹ sehen wir eine Szene, die von der Stimmung her, von der Kameraauflösung und dem Blick auf die Figuren fast wie eine Spielfilmszene wirkt. Hat es Dich nie zum Spielfilm gezogen? Viele berühmte Regisseure fingen als Dokumentaristen an und wechselten dann zum Spielfilm, um nur Krzysztof Kieslowski oder Ken Loach oder Jacek Blawut zu nennen.

A.V.: In den letzten zehn Jahren habe ich dieses Bedürfnis nicht gespürt. Die Dinge, die hier passierten waren so spannend, dass man daraus einen Dokumentarfilm einfach machen musste. Sie lagen sozusagen auf der Strasse. Ich glaube nicht, dass der Spielfilm auf mich je eine vergleichbar starke Anziehungskraft wie der Dokumentarfilm ausüben wird.

D.P.: Geht es dem Dokumentarfilm heute gut, besser oder schlechter? Und: gibt es überhaupt Kriterien eines guten Dokumentarfilms?

A.V.: Dem Dokumentarfilm heute geht es schlechter, entgegen den Beteuerungen von einigen Redakteuren und Entscheidern, die das persönlich anders sehen mögen. Es geht ihm schlechter, weil es weniger Sendeplätze und weniger Geld für Dokumentarfilme gibt. Das gilt für das Fernsehen genauso wie für die Filmförderungen. Einen Dokumentarfilm einfach unter den Kriterien der ›Marktorientiertheit‹ zu realisieren oder realisieren zu lassen, ist tödlich, denn der Dokumentarfilm entzieht sich den Regeln des Marktes. Das fällt denjenigen, die sich bemühen, den ›Markt‹ zu gestalten, schwer. Die Prämissen, die Kriterien, die solche ›Marktgestalter‹ oder ›Marktbediener‹ aufstellen, treffen voll daneben. Was mag ich, was mag ich nicht? - Das wäre die Frage, die sich die Entscheider stellen müssten statt uns die Kriterien, Quoten oder andere ›messbaren‹ Erfolgskoeffizienten an den Kopf zu werfen. Mit Filmen ist es so, wie mit der Liebe: es gibt entweder eine große oder eben keine. Das Schöne an einem wirklich guten Film ist, dass Du ihn Dir immer wieder ansehen kannst. Auch wenn er vorbei ist.

D.P.: Wer ist schuld daran, dass es dem Dokumentarfilm schlechter geht? Die Zeit, in der wir leben? Die Dokumentarfilmemacher selbst? Oder vielleicht jene Redakteure und Produzenten, die am liebsten immer wieder mit den selben Filmemachern arbeiten, weil sie sie gut kennen und die von ihnen erzählten Geschichten niemanden sonderlich aufregen oder bewegen? Oder ist es vielleicht das allgemein beklagte Fernsehsystem mit jenen Zwängen, die sich die Marktgestalter in Form von Einschaltquoten, etc. ausgedacht haben, um eben - wie sie sagen - nicht an dem Markt vorbei zu produzieren?

A.V.: Schuldzuweisungen helfen nicht viel. Schuld ist der Glaube, dass der Markt schon alles richten wird.

D.P.: Die berühmte ›unsichtbare Hand‹ also?

A.V.: Der Markt als Götze, dem heute fast schon alles unterworfen wird. Doch der Markt allein richtet noch gar nichts. Es geht ja um die Einschaltquoten, um die Präsenz auf diesem Markt, um die hinter den gesendeten Filmen stehenden Werbeeinnahmen und die voranschreitende Beeinflussung unseres Konsumverhaltens, kurzum: Es geht um die Manipulation! All das geschieht tagtäglich im Fernsehen, gewollt oder ungewollt, für die Steigerung von Werbeeinnahmen und die Manipulation. Oder sagen wir, zur Beeinflussung des Konsumverhaltens ist der Dokumentarfilm bekanntlich ungeeignet, weil er nur ›Minderheiten‹ interessiert. Das ist übrigens mit der Oper oder dem Ballett, mit dem ganzen Repertoire von bürgerlicher Repräsentationskunst ganz genauso. Auch das ist nur ein Programm für ›Minderheiten‹, mit dem Unterschied allerdings, dass man damit viel, viel mehr Geld verdienen kann, weil es hier um das Prestige, um den Sozialstatus, Stars, große Tenöre oder Mezzosoprans geht. Der Dokumentarfilm ist scheinbar etwas Schmuddeliges, für den eleganten ›Life Style‹ nicht so geeignet, weil er eben, wenn er tatsächlich gut ist, Dinge zu stark in Frage stellt.

D.P.: Lässt Dich das kalt?

A.V.: Das lässt mich nicht kalt! Ich versuche nur, Dinge so zu sehen, wie sie sind. Was sollen in dieser Situation die jungen Dokumentaristen machen, deren Schubladen womöglich von tollen Projekten nur so überquellen? Schwerlich, nicht aus jedem Projekt wird etwas. Auch nicht aus jedem, das hier entwickelt wurde. Der Sinn der Arbeit hier war es zum Beispiel, gute Projekte zu finden, sie zu entwickeln und erste Kontakte zu den Redaktionen und Produzenten zu ermöglichen. Dann muss jeder allein losziehen. Ein Rat ist da kaum brauchbar. Mir rät ja auch keiner was und wenn schon, dann hilft es selten. Du musst den Weg selbst herausfinden, immer wieder. Und ihn mit Genuss durchleben. Ich habe immer wieder erlebt, dass junge Dokumentarfilmemacher sich um den ›Markt‹ gar nicht scheren. Und dass ihnen letztendlich die Zuschauer im Kino oder vor dem Fernseher sehr oft recht geben. Zur Verwunderung von ›Marktgestaltern‹. Darüber freue ich mich.

D.P.: Im nächsten Jahr soll die Mediengesellschaft die neuen Aufgaben der Filmförderung in Niedersachsen übernehmen, die Aktivitäten sollen gebündelt werden. Die NDR-Filmförderung hat in ihrer Novembersitzung u.a. den Antrag der Drehbuch-Werkstatt Niedersachsen auf Projektdurchführung im nächsten Jahr bewilligt, was mich persönlich optimistisch stimmt und mit Dankbarkeit erfüllt. Innovativ sollen diese Programme und Projekte sein. Wie würdest Du ein solches Programm für Dokumentaristen gern gestalten?

A.V.: Wir wollen im nächsten Jahr stärker praktisch arbeiten. Bis in den Schnitt hinein, wenn es denn auch möglich wird. Und Autoren helfen, Filme zu konzipieren, die einerseits außerhalb des Mainstreams liegen, andererseits aber bewegende Geschichten erzählen. Viel hängt von der Auswahl der Stoffe ab und da muss man zuerst abwarten, was kommen wird.

D.P.: Darf ich Dich zum Schluss fragen von welchen Projekten Du zur Zeit träumst?

A.V.: Von einer neuen Grenzlandreise. Meinen ersten Film über die Grenzen habe ich Anfang der 90er Jahre gemacht. Er hieß ›Grenzland. Eine Reise‹ und ist eine sehr persönliche Reise entlang der deutsch-polnischen Grenze, entlang der Flüsse Oder und Neiße. Später kam der zweite Film ›Ostpreußenland‹: eine Reise von Berlin durch Polen nach Russland, in das ehemalige Ostpreußen, das Kaliningrader Gebiet. Mein neues Projekt, das ich sehr gern realisieren würde, wäre eine Reise entlang der österreichisch-slowenischen und österreichisch-ungarischen Grenze. Leider haben wir immer noch nicht alles Geld zusammen.

D.P.: Ich wünsche Dir, dass sich dieser Traum realisiert und dass wir, in bequemen Kinosesseln sitzend, bald mitreisen dürfen. Vielen Dank für das Gespräch und herzliche Grüße aus Hannover nach Singapur.

A.V.: Das wäre schön. Bis dahin werde ich die tropische heiße Nacht genießen und mit meinen Studenten jetzt Sushi essen gehen.


Das Interview wurde online am 13.11.2000 von Dorota M. Paciarelli (Leiterin der Drehbuch-Werkstatt Niedersachsen beim Film & Medienbüro Niedersachsen) geführt.


Drehbuchwerkstatt Niedersachsen


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