Interview

›Ohne Ritual kein wahrer Austausch‹
   
Dorota M. Paciarelli interviewte Wojciech Marczewski


Er gilt als einer der besten Filmpädagogen in Europa, war bis 1994 Leiter der Regiefakultät an der National Film School London, lehrt seit Jahren an der National Film School in Kopenhagen, ist Spielfilmregisseur und schreibt mangels geeigneter Drehbücher seine Geschichten selbst, oder lässt sich– wie bei seinem letzten, soeben abgedrehten Spielfilm ›Weiser‹ – von literarischen Vorlagen inspirieren. Seine Filme wie ›Zmory‹/1978 (›Nightmares‹, Silberner Bär in Berlin), ›Dreszcze‹/1982 (›Shivers‹, Prix de San Sebastian) oder ›Ucieczka z Kina Wolnosc (›Die Flucht aus dem Kino Freiheit‹) erreichten in Polen Kultstatus und wurden weltweit verkauft. Im sechsmonatigen Development Programm der Drehbuch-Werkstatt Niedersachsen SCRIPT 2000! FICTION haben zehn ausgewählte Autoren, darunter zwei vom Land Niedersachsen/NDR-Filmförderung Niedersachsen geförderte Drehbuchautoren sowie zwei Stipendiaten der Drehbuch-Werkstatt die Möglichkeit, bis Ende des Jahres die erste bzw. die zweite Drehbuchfassung ihrer Geschichte unter der Leitung von WOJCIECH MARCZEWSKI zu schreiben.
Folgende Autoren nehmen am Programm teil: Dirk Drebelow und Herbert Wüst/Lüneburg und Berlin mit ›Endstation Sehnsucht‹, Jan Hinrik Drevs/Rateburg mit ›Schatzmeister‹, Jan Kramer/Berlin mit ›Dorn‹, Erik Lange/Vechta mit ›Der grosse Tag‹, Katharina Naumow/Hamburg mit ›Daria‹, Arne Nolting/Köln mit ›Dixie-Blues‹, Ali Samadi-Ahadi und Ingolf Bannemann/Hannover mit ›Boot Piepel‹, Don Schubert/Köln mit ›Gold und Franz‹, Franziska Stünkel/Hannover mit ›Star‹ sowie Richard Westermaier/München mit ›Der Cutter‹. Dorota M. Paciarelli, Leiterin der Drehbuch-Werkstatt Niedersachsen, hat seit 1985 in Berlin Regieseminare für Wojciech Marczewski organisiert und konnte ihn für dieses Jahr als Mentor des SCRIPT 2000! FICTION Programms für die Zusammenarbeit gewinnen. Anläßlich des Aufenthalts des Regisseurs in Hannover, wo die zweite Session von SCRIPT 2000! FICTION stattfand, führte sie mit ihm das Interview für die Rundbrief-Leser.

Dorota M. Paciarelli: Fühlst Du Dich wohl in Hannover?

Wojciech Marczewski: Ja, sehr. Ich habe mir extra zwei Tage genommen, um die Stadt besser kennenzulernen. Jetzt bin ich gespannt, was Du mir nach Wolfenbüttel zeigst. Wie hieß doch der Ort, wo wir im Oktober arbeiten?

D.P. Bad Bevensen.

W.M. Ja. Klingt sehr nach Gesundheit.

D.P. Stimmt. Aber keine Angst, wir arbeiten am Rande des Ortes, in der Nähe eines Klosters. Verrätst Du unseren Lesern etwas über Deine, wie ich finde, sehr effektive Lehrmethode?

W.M. Hast Du schon über die Rituale in unserem Leben nachgedacht? Ich war heute auf der EXPO, es war herrlich, ich lief ohne bestimmtes Ziel, trank ein Guiness-Bier, dann kam ich in den Pavillon von den Philippinen. Dort trat gerade eine Tänzergruppe auf...

D.P. Das hat doch mit meiner Frage nichts zu tun.

W.M. Doch, aber nicht direkt. Also... da war eine Gruppe von Tänzern. Ganz junge Menschen, sie waren wohl vierzehn, maximal siebzehn Jahre alt. Sie spielten eine Geschichte über ein Mädchen und zwei Jungen vor. Der Plot war einfach: Die Jungen wollen das Mädchen für sich gewinnen, sie werben um ihre Gunst und der eine versucht den anderen in ihren Augen lächerlich zu machen...

D.P. Eine Liebesgeschichte also.

W.M. Nur scheinbar. Die Spieler hatten diese typischen ostasiatischen Puppen, die man mit den Fäden bewegt. Die Schauspieler konnten die Puppen so bewegen, daß man sie plötzlich als lebendige Wesen empfand. Zum Schluss haben sie uns alle verzaubert, wir haben gelacht, wir haben mitgemacht, wir wollten, dass die Vorstellung nicht endet. Ich sah auf ihre Füße, die Füße tänzelten. Ganz leichte Bewegungen, zart, nicht hörbar. Alles kam mir vor, wie ein wunderbares Ritual, eine Zeremonie des Gebens, die vor unseren Augen und nur für uns, nur für diesen Augenblick zelebriert wird. Am Ende waren die Darsteller total erschöpft, aber glücklich. Und wir, die Zuschauer, auch. Für einen Moment haben wir so etwas wie unerwartete Freude erleben dürfen. Das war schön. So selbstlos. Später, beim Guiness Bier im irischen Pub, dachte ich über das Schöne daran nach und habe verstanden, dass es schön war, weil es ein Ritual gewesen ist, an dem wir teilgenommen haben. Das Ritual, so kam es mir vor, ist eine der Grundbedingungen des intensiven Lebens und Erlebens.

 

Oben von links nach rechts: Jan Kramer, Richard Westermaier, Wojciech Marczewski, Arne Nolting, Jan Hinrik Drevs, Ali Samadi-Ahadi; unten: Franziska Stünkel, Herbert Wüst






Wojciech Marczewski und Ali Samadi-Ahadi bei der Regieübung in Hannover.
D.P. Kannst Du es bitte näher erläutern?

W.M. Nehmen wir zum Beispiel die Arbeit. Wir können arbeiten gehen, Karte abstempeln sozusagen, unsere Pflichten achtlos erfüllen; von hier bis dort: fertig ist die Arbeit. Doch wenn wir unserer Arbeit bestimmte Rituale zugrunde legen, können wir dieselbe Arbeit – auch das Schreiben, Regieführen oder Spielen – intensiv erleben. Mehr über uns selbst erfahren. Weil wir offen sind. Weil wir zu geben bereit sind. Oder Du lädst die Freunde zum Abendessen ein. Wenn Du sie liebst, wirst Du den Tisch schön decken, ein gutes Essen vorbereiten, einen edlen Wein auf den Tisch stellen und für gute Atmosphäre sorgen. Oder Du verhältst Dich ganz anders: während des Essens telefonierst Du permanent mit Deinem Handy. Alles auf dem Tisch stammt aus der Lebensmittelabteilung eines Supermarktes. Die Gespräche langweilen Dich eigentlich, also hörst Du unkonzentriert zu und kannst es nicht abwarten bis Deine Freunde nach Hause gehen. Dasselbe gilt für das Liebesleben. Einen Liebesakt kann man genießen, ihn mit bestimmten Ritualen zelebrieren oder man lässt sich auf das Spiel nur körperlich ein. Dann aber ist es nur ein Geschlechtsakt gewesen. Ohne Ritual findet kein wahrer Austausch statt. Nur scheinbar also ist Arbeit Arbeit, Sex Sex, und Schreiben Schreiben...

D.P. Doch in Wirklichkeit ist der Unterschied so groß wie ein Tag und eine Nacht. Das Geheimnis liegt wohl in der Frage: Wie tue ich etwas? Mit welcher Intensität?

M.W. Und wie wichtig ist die Verbindung zwischen mir und dem was ich tue.

D.P. Bist Du für die Leidenschaft, das Rituelle auch in der Filmkunst?

M.W. Ich denke, bestimmte Vorgänge und Tätigkeiten, besonders im kreativen Bereich, sind ohne das Ritual nicht möglich. Die rücksichtsvolle Beachtung des betrachteten Objektes, das Glaubensbekenntnis des Künstlers, auf jeden Fall seine tiefe Bindung an die innere Welt, haften allen großen Kunstwerken an. Wie jedem intensiven Erleben. Deshalb hatte Egon Schiele Recht, als er schrieb, es gebe keine moderne Kunst sondern nur die gute Kunst und die ist immerfortwährend. Ewig.

D.P. Hast Du während des letzten Seminars die Autoren deshalb Regie bei ihren Texten führen lassen, damit sie aus dem gewöhnlichen Schreibprozess rausgerissen werden und das Ungewöhnliche: die Regie erleben?

M.W. Nein. Das habe ich aus einem anderen, pragmatischen Grund gemacht. Außerdem ist das Schreiben nie gewöhnlich. Das Rituelle des letzten Seminars das waren eher die Vorbereitungen zum Dreh, der Dreh selbst und die screenings danach. Und weil so viel gelacht wurde, nehme ich an, dass die Teilnehmer viel gelernt haben. In einem Kurs für die Regisseure, den ich in der Schweiz für FOCAL geleitet habe, sagte mir jemand, ich würde in meiner Arbeit mit den Nachwuchsregisseuren zu stark das Autorenkino in den Vordergrund rücken. Wozu die Elemente des Drehbuchschreibens, fragte man mich, wenn es doch ein Kurs für die Filmregisseure ist. Mit dem Autorenkino aber hatte meine damalige Entscheidung nichts zu tun gehabt. Ich bin nicht der Ansicht, dass der Filmregisseur Drehbücher schreiben muss, aber ich bin der Ansicht, er muss in der Lage sein, sie lesen zu können. Sie richtig zu analysieren, um am Text nicht zu scheitern.

D.P. Was heißt es ?

M.W. Manchmal wirken die Szenen beim Lesen des Drehbuchs wunderschön. Sie sind fantastisch und Du denkst Dir: herrlich, schön, genial. Dann zerlegst Du die Szenen in die einzelnen Filmelemente und Du merkst, dass sie leer geworden sind. Ja, sie sind schön geschrieben worden, aber sie sind jetzt, nachdem der Regisseur sie einer Einschätzung unterzogen hat, leer. Sie liefern nicht das notwendige Material, die Basis, auf die man die Kameraarbeit, die Schauspieler stützen könnte. Sie würden, wenn Du sie gedreht hättest, in sich zusammenfallen.

D.P. Meinst Du so genannte ›literarische Drehbücher‹ oder Mangel am starken Fundament: Konflikt, Emotionen, Beweggründe?

W.M. Nein, mit der Literatur hat es wenig zu tun. Oft sind es professionell geschriebene Drehbücher, keine Literatur also. Ich meine ein anderes Phänomen, das sich uns beim Lesen in den Weg stellt. Wenn wir Regisseure Drehbücher lesen, lassen wir uns gern von der Sprache, von der eigenen Fantasie, die der Drehbuchautor zuvor in den Gang gesetzt hat, verführen. Eine richtige Einschätzung ist deshalb sehr wichtig. Erst bei der Analyse merken wir, die Szene hat doch keine Substanz, sie ist zu zerbrechlich, sie liefert zu wenig Stoff für die Schauspieler, sie wird im Film nicht, oder im besten Fall, nicht so wie sie im Drehbuch angelegt wurde, funktionieren. Deshalb soll der Regisseur in der Lage sein, die Mängel einer Szene aufzudecken und die schwächeren Szenen zu verbessern. Nicht selten sind es Schauspieler, die auf Veränderungen beharren.

D.P. Geht dabei manchmal nicht etwas verloren, wenn der Regisseur dem Drehbuchautor ins Werk eingreift?

W.M. Das kann passieren. Damit die Szenen tatsächlich verbessert und nicht kaputt gemacht werden, muss der Filmregisseur die Prinzipien der Szenenkonstruktion verstehen und die wichtigsten Regeln der Dramaturgie auf seine Arbeit anwenden können. Wo kann ich verdichten? Wie arbeite ich die Wendepunkte heraus, dass sie auch deutlich werden? Wo liegt der Konflikt innerhalb einer Szene? Wie mache ich die Motivation der Figur mit filmischen Mitteln sichtbar ohne das Spiel mit dem Zuschauer aus den Augen zu verlieren?

D.P. Du stellst sehr hohe Anforderungen an Autoren. Ich weiß, dass Du sehr viele Stoffe angeboten bekommst. Letztendlich schreibst Du Deine Drehbücher aber immer selbst. Nach welchen Kriterien richtest Du Dich bei der Auswahl der Drehbücher oder Filmideen für Deine eigenen Filme?

W.M. Ich bekomme viele gute Geschichten. Das Problem ist nur, dass die wenigsten etwas mit meiner Welt zu tun haben. Ich habe relativ früh mit dem Schreiben angefangen und lese auch sehr viel. Die Lyrik gehört dazu ebenso wie Kunstkataloge oder Romane. Wenn ich Drehbücher bekomme, wo mir der Autor die Kamerabewegungen vorschreibt, lege ich sie sofort weg. Etwa in der Art: ›Die Kamera schwenkt langsam nach rechts. In der Unschärfe sehen wir dies oder jenes, danach wird es ganz dunkel‹. Der Drehbuchautor hat nur in ganz seltenen Ausnahmefällen das Recht, die Kamerabewegungen oder Einstellungsgrößen festzulegen.

D.P. Wieso nicht?

W.M. Weil es nur Theorie auf dem Papier ist. Die Arbeit am Set wird ohnehin Alles revidieren. Schon die Wahl der Location macht die Vorstellungen des Autors zunichte. Die eigentliche Filmsprache wird ja erst während der Dreharbeiten gebildet. Natürlich bemühen wir uns, das Wichtigste vor dem Dreh festzulegen, aber in Wirklichkeit erst in der Zusammenarbeit mit dem Kameramann und den Schauspielern zeigt sich, wie die jeweilige Szene gefilmt wird. Film ist immer ein Kompromiss, ein Duell zwischen dem Machbaren und dem Nichtmachbaren. Am Schreibtisch wird nur ein Grundstein gelegt.

D.P. Warum war es Dir so wichtig, die Teilnehmer des diesjährigen Development Programms der Drehbuch-Werkstatt, von denen die meisten Drehbuchautoren und nur einige auch Regisseure sind, kurze Szenen schreiben und diese dann vor der Kamera inszenieren zu lassen?

W.M. Weil ein Development Prozess, wenn er kreativ sein soll, immer mehr ist als farbige Graphiken, Orchestrierung oder trockenes Dialog Poolish. Und weil das, was ich zuvor über die Filmregisseure und über die Notwendigkeit des analytischen Umgangs mit den Drehbüchern sagte, in umgekehrter Form auch für die Drehbuchautoren gilt. Die Autoren, besonders die Schriftsteller, neigen dazu, das Medium Film als etwas Minderwertiges anzusehen, als Produkt der Pop-Kultur sozusagen. Verbreitet ist auch meiner Meinung nach die falsche Ansicht, dass z. B. der Fernsehspielfilm sich durch naturalistische Darstellungsform auszeichnet, mit Dialogen, Nah- und Großaufnahmen und gleichmäßiger Beleuchtung. Auch das ist nicht wahr. Oder nur teilweise zutreffend. Ich habe die Autoren aus rein pragmatischen Gründen gebeten, sich als Regisseure hinter die Kamera zu stellen, damit sie die Wirkung der von ihnen geschriebenen Kurzszenen auf der Leinwand – in diesem Fall war es ein TV-Monitor – überprüfen können. In der Ausbildung von Drehbuchautoren finde ich es wichtig, dass sie ein paar Regieerfahrungen in Form von bestimmten Übungen sammeln, weil sie dadurch ihren Blick auf das Machbare und das Notwendige schärfen können. Sie sollen lernen, das Überflüssige beim Schreiben auszulassen – die Kamerabewegungen zum Beispiel. Sie sollen lernen, die Szenen nicht mit Dialogen zu überladen. Sie sollen lernen, gute Szenen zu schreiben, damit die Filmregisseure auch gute, bewegende Filme drehen können.

D.P. Das sagt sich so leicht. Wie definiert man ›gute Szene‹?

W.M. Unser Denken ist von Klischees geprägt. Beim Schreiben macht sich das schnell bemerkbar. Sagen wir z. B. ›ein kleines Kind‹, so denken wir zuerst an ein niedliches, süßes und unschuldiges Wesen. Der erste Impuls beim Wort ›Ein Mann von der Straße‹ oder ›Obdachloser‹ verleitet uns beim Schreiben dazu, ihn als eine Figur zu beschreiben, die Drogen nimmt, Alkoholprobleme hat oder gar Kleinkrimineller ist. Diese Klischees sind sehr hartnäckig. Wir schreiben z. B.: ›Die Hauptprotagonistin ist eine junge Frau‹. Seltsamerweise müssen wir dabei gar nicht hinzufügen, dass sie schön ist. Das verstehst sich ja von selbst. Unsere Empfänglichkeit gegenüber dem Klischeehaften lässt hinter zwei Worten: ›Hauptprotagonistin‹ und ›jung‹ sofort auch das dritte, eben klischeehafte Attribut erscheinen: ›wunderschön‹. Was lässt uns eigentlich als Autoren nicht weiter suchen? Vielleicht sollte sie erst im Laufe der Geschichte schön werden? Vielleicht wird sie erst auf eine andere Art und Weise schön? Vielleicht wird sich uns ihre Schönheit erst in einer bestimmten Situation offenbaren?

D.P. Wie in ›Breaking the Waves‹ von Lars von Trier oder in ›La vie revee des anges‹ von Emil Zonca?

W.M. Ja. Und weil die Klischees so hartnäckig sind, müssen die Drehbuchautoren die Fähigkeit entwickeln, dem klischeehaften Denken über die Figuren und ihre Reaktionen zu widerstehen. Das versuche ich in meinen Seminaren zu erreichen.

D.P. Diese Fähigkeit setzt voraus, dass der Drehbuchautor tief in sich selbst geschaut hat. Manchmal ist es die Frage der Courage. Wenn ich schreibe, entblöße ich doch teilweise meine innere Welt, werde angreifbar, verletzbar, sichtbar. Deshalb wohl bleiben viele Drehbuchautoren so gern auf der Oberfläche der Emotionen ihrer Figuren. Was kann man dagegen tun?

W.M. Springen. Eintauchen. All das betrachten und wieder hochkommen. Am Anfang ist es tatsächlich schmerzhaft und man meidet den Kontakt mit der dunklen Zone. Man flüchtet vor ihr. Das Handwerk bietet eine gewisse Sicherheit. Persönlich bin ich aber fest davon überzeugt, dass der rücksichtslose Einblick in den eigenen Abgrund, in die menschlichen Emotionen, die Auseinandersetzung mit wahren Bewegungsgründen für unser Handeln die Essenz der wahren Kreativität ist. Die Kunst hat ja nur Sinn, wenn sie individuell geprägt ist, wenn der persönliche Finger print klar und deutlich ist. Die Geschichten, die wir im Kino erzählen sind doch immer die gleichen.

D.P. Man kann sie aber aus unterschiedlichem Blickwinkel betrachten. Wo liegt das Geheimnis des erfolgreichen Schreibens?

W.M. Der Schlüssel dazu ist eigene Persönlichkeit. Deshalb ist es für mich wichtig in der Arbeit mit Studenten, dass sie begreifen und nach Möglichkeit selbst erfahren, dass das Grundlegende in ihnen selbst liegt. Das Handwerk ist doch nur dafür da, all das, was in uns an Begabungen schlummert, ans Tageslicht zu fördern. Die wahre Materie, aus der die künftigen erfolgreichen Drehbuchautoren und Filmregisseure zu schöpfen lernen sollen, ist ihre eigene Welt, ihre Persönlichkeit. Einen anderen Weg kenne ich nicht. Es stellt sich natürlich die Frage: werden Sie bereit sein, diese inneren Schichten nach außen abzutragen? Werden sie den Mut haben, zum Kern ihres Wesens vorzustoßen? Werden sie bereit sein, ihre eigenen niederträchtigsten Eigenschaften aus der Tiefe herauszuholen, um sie dann - Teile ihres eigenen Lebens - den Figuren einzuhauchen? Ich sehe einen tiefen Sinn darin, die Drehbuchautoren zu zwingen, ein Mal, zwei Mal im Leben die Kamera in die Hand zu nehmen. Sie werden dann bewußter schreiben. Und sie werden schnell merken, dass einige Ideen nur auf dem Papier gut sind, sich aber im Film nicht bewähren. Soviel zur, sagen wir, Filmpädagogik.

D.P. Das ist nicht unbedingt das gewünschte Bild des Drehbuchautors aus der Perspektive der Filmindustrie. Der Autor als Künstler: seltene Aufforderung in den Zeiten der fast schon industriellen Herstellung von Filmen, immer wieder nach dem selben, bewährten Muster...

W.M. Jede Medaille hat ja zwei Seiten und jeder Stock zwei Enden. Die gesunde Kinematographie eines Landes braucht die starke Filmindustrie. Wenn wir über die Filmindustrie sprechen dann werden die flexiblen Drehbuchautoren tatsächlich zunehmend gebraucht. Die Filmindustrie und der Fernsehmarkt brauchen Autoren, die in der Lage sind, im Auftrag und nach bestimmten Vorgaben zu schreiben. Marketing oder das Product Placements und andere kommerzielle Überlegungen sind hier nur ein Beispiel.

D.P. Wo ist dann noch Platz für die Filmkunst?

W.M. Heute muss man sich fast schämen, wenn man das Wort ›Kunst‹ in den Mund nimmt. Eins sollten die Filmpolitiker und Filmentscheider bedenken: das Eine braucht das Andere zum gegenseitigen Gedeihen. Die klugen Politiker haben stets auf gewisse Ausgewogenheit zwischen der reinen Industrie und der Filmkultur geachtet. Wer die Künstler in die Ecke drängt, sie verstummen lässt oder sie zu rein kommerziell schreibenden, malenden oder filmenden Auftragnehmern verwandeln will, wird letztendlich selbst stumm und blind vor dem Fernseher sitzen bleiben. Als ich in Hannover die Ausstellung von Kokoschka, Schiele und Klimt sah und später die EXPO besuchte, habe ich einen gewissen Optimismus gespürt. Aber vielleicht war er darauf zurückzuführen, dass die Zeit mit Euch im Seminar so produktiv und spannend war. Wenn einige Filme von den hier entwickelten Drehbüchern im Kino oder im Fernsehen zu sehen sein werden, werde ich auch sagen können, ob die Filmkunst noch lebt. Erst dann. Bis dahin liegt noch spannende Arbeit vor uns. Und jetzt machen wir Schluss, ansonsten wird Dein Essen kalt.


(In der nächsten Ausgabe veröffentlichen wir ein Interview mit den Mentoren der Dokumentarfilmgruppe, Jacek Blawut und Andreas Voigt.)

Drehbuchwerkstatt Niedersachsen

Zurück zurück zur letzten Seite